Gnade
Ist es dem Menschen jemals möglich, allmächtig zu werden?
Sri Chinmoy:
Nein, der Mensch kann nicht allmächtig werden. Aber Gottes bedingungslose Gnade, die im und durch den Menschen wirkt, kann absolut unvorstellbare Dinge vollbringen. Natürlich ist nicht der Mensch der Vollbringer dieser Taten. Der allmächtige Gott gebraucht den Menschen als ein Instrument. Durch die reine und demütige Empfänglichkeit des Menschen kann Er Seine eigene Allmacht manifestieren. Wenn Gott aus Seiner unendlichen Güte heraus etwas Außerordentliches in dir und durch dich vollbringen will, so kann Er das tun.
Habe ich Recht, wenn ich sage, dass wir, die wir an Gott glauben, uns täglich mehr und mehr Gottes Gnade öffnen müssen?
Sri Chinmoy:
Du hast absolut Recht, wenn du sagst, dass die, die an Gott glauben, sich täglich mehr und mehr Gottes Gnade öffnen müssen. Ein wahrer Glaubender fühlt, dass sein ganzes Dasein auf Erden, all seine inneren und äußeren Errungenschaften und Erfüllungen, nichts anderem als Gottes Gnade zuzuschreiben sind. Außerdem hat er das Glück zu erkennen, dass sein so genanntes persönliches Bemühen ebenfalls ein Akt der Gnade Gottes ist. In jedem Moment fühlt er, dass er ohne Gottes Gnade nichts ist und mit Gottes Gnade alles.
Ist Gottes Mitleid dasselbe wie Seine Liebe?
Sri Chinmoy:
Gottes Liebe ist für jeden da. Sie ist wie die Sonne. Ein Mensch braucht nur das Fenster seines Herzens offen zu halten, um göttliche Liebe zu empfangen. Wenn Gottes Liebe eine persönliche Form annimmt, wird sie Mitleid genannt. Dieses Mitleid ist die machtvollste Eigenschaft, die bedeutendste Eigenschaft des Supreme. Gottes Mitleid gilt den wenigen Auserwählten. Gottes Mitleid ist wie ein Magnet, der den Suchenden zu seinem Ziel zieht. Es ist eine mächtige Kraft, die den Suchenden ständig führt, vorantreibt und zieht und es nicht zulässt, dass er auf dem Pfad der Selbstverwirklichung ausrutscht. Gottes Liebe tröstet und hilft dem Sucher, aber wenn der Sucher einschläft, wird die Göttliche Liebe ihn nicht zwingen aufzuwachen und seine Reise wieder aufzunehmen.
Gottes Mitleid ist anders als menschliches Mitleid. Wir können auf menschliche Weise Mitleid und Bedauern für jemanden empfinden, aber dieses Mitleid hat nicht die Kraft, den Betreffenden zu verändern und ihn zu veranlassen, von seinem unbewussten Zustand dem Licht entgegen zu laufen. Bei Gottes Mitleid handelt es sich um eine Kraft, die den Sucher verändert und verwandelt und ihn davor bewahrt, große Fehler in seinem spirituellen Leben zu begehen.
Liebe wird auch bei der Unwissenheit bleiben, Mitleid jedoch nicht. Mitleid muss erfolgreich sein, sonst kann es zurückgezogen werden. Es kann für einige Sekunden, oder einige Minuten oder einige Jahre bleiben, aber dann muss es der Höchsten Autorität Rechenschaft ablegen und berichten, ob es erfolgreich war oder nicht. Die Zeit mag kommen, wo die Höchste Autorität sagt: „Das ist eine unfruchtbare Wüste. Komm zurück.“ Dann muss das Mitleid zurück zur Höchsten Autorität, zum Supreme, fliegen.
Wie kann ich wissen, ob ich etwas durch persönliche Bemühung oder durch Gottes Gnade erreicht habe?
Sri Chinmoy:
Du musst wissen, dass Gnade etwas ist, das wir niemals verstehen können und niemals verstehen werden, solange wir Gott nicht verwirklicht haben. Persönliches Bemühen ist auch Gottes Gnade. Es gibt viele Geschichten darüber, wie Sucher glauben, dass alles ihre persönliche Bemühung ist, und wie sie später zu der Erkenntnis gelangen, dass alles Gottes Gnade war. Solange wir uns Gottes beständiger Gnade nicht bewusst sind, müssen wir unseren persönlichen Einsatz aufbringen. Gott ruft schon lange nach uns einzelnen Menschen, damit wir aus dem Meer der Unwissenheit herauskommen.
Gottes Gnade ist für alles verantwortlich, aber bevor wir das fühlen können, ist es immer empfehlenswert, uns persönlich zu bemühen. Wenn wir uns nicht bewusst persönlich bemühen, werden wir nie in der Lage sein, die höchste Wahrheit zu erkennen. Wir werden sehen, dass persönliches Bemühen nichts anderes als Gottes versteckte Gnade ist. Ohne die Macht der Gnade liegt alles außerhalb unserer Reichweite. Mit der Macht der Gnade ist alles leicht zu erreichen.
Es gibt eine festgesetzte Stunde, zu der Gott unser Bewusstsein erwecken wird, ob wir nun an Ihn glauben oder nicht. Er wartet auf die auserwählte Stunde, und wenn diese Stunde schlägt, kommt Er zu uns und gibt uns, was Er uns geben möchte. Aber das heißt nicht, dass wir nicht streben werden, dass wir in der Welt des Schlafes leben und uns nicht persönlich bemühen werden. Keineswegs! Wir werden wie ein echter Bauer fortfahren, den Boden mit aufrichtiger Widmung und Regelmäßigkeit zu bestellen, und nachdem wir unseren Teil geleistet haben, überlassen wir es Gott zu entscheiden, wann Er uns die reiche Ernte der Verwirklichung geben will.
Wenn Gott Sein Mitleid gebraucht, wirkt es wie ein Magnet von oben, der uns zum Höchsten hinauf zieht. Und wenn wir unsere Selbsthingabe gebrauchen, zieht dieser Magnet Gott augenblicklich herab in unseren lebenden Atem. Wenn unser Magnet und Gottes Magnet zusammentreffen, dann schlägt für uns die Stunde Gottes in unserem Leben des inneren Strebens und der Selbstwidmung.
Kann Gnade das Schicksal ändern?
Sri Chinmoy:
Das Schicksal kann und muss verändert werden. Was dafür erforderlich ist, sind Gottes Gnade plus persönliches Bemühen. Es gibt Sucher, die das Gefühl haben: „Wenn ich Gottes Gnade schätze, welche Notwendigkeit besteht dann noch für persönliches Bemühen?“ Aber sie irren sich. Persönliches Bemühen wird der herabströmenden Gnade Gottes niemals im Wege stehen. Persönliches Bemühen beschleunigt die Herabkunft von Gottes Gnade. Gott kann uns alles geben, was Er möchte, ohne dass wir die geringste persönliche Bemühung aufbringen. Doch Er sagt: „Es ist für deine eigene Zufriedenheit, dass Ich dich um diesen kleinen persönlichen Einsatz bitte.“ Wenn wir diesen persönlichen Einsatz leisten, wird unser ganzes Leben von göttlichem Stolz überflutet: „Seht, was ich für Gott getan habe!“ Unser bewusstes Einssein mit Gott, welcher unendlich ist, welcher ewig unsterblich ist, veranlasst uns, etwas für unseren Liebsten und nicht für unser Ego zu tun.
Wenn wir aufrichtig persönlichen Einsatz zeigen, wird Gott außer sich vor Freude sein. Warum? Weil Er dann der Welt sagen kann: „Mein Kind, mein auserwähltes Instrument, hat dies für Mich getan und jenes für Mich getan.“ Durch persönliches Bemühen können wir unser Dasein auf Erden würdig machen und gleichzeitig Gott auf uns stolz sein lassen.
Letzten Endes muss persönliches Bemühen in dynamische Selbsthingabe wachsen. Wenn wir die Ergebnisse unseres inneren Strebens und unseres inneren Dranges Gott darbringen, wird dies Selbsthingabe genannt. Wenn wir Gott keine Ergebnisse anerbieten, sondern wie ein toter Körper zu Seinen Füßen liegen und Ihn für uns, in uns und durch uns arbeiten lassen, ist das falsch. Gott will keinen untätigen Körper, keine tote Seele. Er will jemanden, der aktiv, dynamisch und strebsam ist, jemanden, der Gott verwirklichen und sämtliche göttlichen Eigenschaften auf Erden manifestieren will.
Selbsthingabe ist unsere letzte und höchste Errungenschaft. Es gibt keinen Unterschied zwischen Gottes Gnade und unserer bedingungslosen Selbsthingabe. Gottes Gnade und unsere bedingungslose Selbsthingabe sind wie Vorder- und Rückseite derselben Münze. Wenn Gott uns diese Gnade nicht schenken würde, könnten wir keine bedingungslose Selbsthingabe vollziehen. Gottes Gnade zu erlangen ist eine echte Errungenschaft. Bedingungslose Selbsthingabe ist ebenfalls eine echte Errungenschaft.
Wie wichtig ist Gottes Gnade für unseren spirituellen Fortschritt?
Sri Chinmoy:
Vor der Verwirklichung glauben wir, dass allein unsere persönliche Bemühung, unser inneres Streben für unseren spirituellen Fortschritt verantwortlich ist. Zu dieser Zeit gibt es für uns so etwas wie Gnade nicht. Aber nach der Verwirklichung gelangen wir zu der Erkenntnis, dass es so etwas wie inneres Streben nicht gibt. Unseren Fortschritt verdanken wir allein der göttlichen Gnade.
Im gewöhnlichen menschlichen Leben finden unsere Wünsche kein Ende. Heute wollen wir ein Auto, morgen zwei Autos, übermorgen drei Autos: unsere Wünsche gehen immer weiter. In der Welt des inneren Strebens und der Verwirklichung gibt es ebenso kein Ende.
Nach einem bisschen Frieden, Licht und Glückseligkeit versuchen wir, eine große Menge zu erhalten, danach eine unermessliche Fülle. Aber wir müssen uns bewusst sein, was uns inspiriert hat, die Welt der Wünsche zu verlassen und die Welt inneren Strebens zu betreten.
Wie ist es möglich, dass innerhalb meiner Familie, unter meinen Freunden und all den Menschen auf der ganzen Welt gerade ich angefangen habe zu streben? Was inspirierte mich? Was trieb mich an zu streben? Es ist die göttliche Gnade des Supreme, die mich inspiriert hat. Wie kommt es, dass mein Bruder nicht betet und meditiert, sondern dass ich die intensive innere Sehnsucht habe, Gott zu verwirklichen? Es ist die höchste Kraft, dank derer die göttliche Gnade in mir und durch mich wirkt. Ich besitze inneres Streben, weil Gott es mir gegeben hat. Es ist alles Seine Gnade.
Die Sonne scheint ständig. Es liegt an uns, die Fenster und Türen zu öffnen, um das Licht zu empfangen. Wenn wir die Türen und Fenster öffnen, wird die Sonne normalerweise herein scheinen. Ähnlich strömt die göttliche Gnade fortwährend von oben herab. Lasst uns daher stets versuchen, sie mit der weit geöffneten Türe unseres Herzens zu empfangen.
Was macht Gottes Gnade, wenn wir der Gnade Gottes Widerstand leisten?
Sri Chinmoy:
Wenn jemand dem Mitleid Gottes Widerstand leistet, wartet Gott entweder für unbestimmte Zeit und benutzt Seine Macht der Geduld, oder Er gebraucht noch mehr Mitleid. In Seinem Fall handelt es sich um unendliches Mitleid. Er nimmt keine Niederlage hin. Wenn wir Seinem Mitleid Widerstand leisten, benutzt Er vielleicht noch mehr Mitleid, um uns zu besiegen, oder aber Er erlaubt uns, zehn, zwanzig, fünfzig, sechzig oder einhundert Jahre länger in der Unwissenheit zu verweilen. Er hat es mit unendlicher Zeit zu tun. Es liegt an Ihm, ob Er uns zwingen will, Sein Licht auf andere Art und Weise anzunehmen. Dieses Zwingen geschieht jedoch nicht auf menschliche Weise. Sein Zwingen bedeutet, dass Er mehr von Seiner Mitleidsmacht anwenden wird, die Er hat und die Er ist. Von Seinem unendlichen Mitleid wird Er noch mehr Mitleid gebrauchen; Er wird mehr Mitleid gebrauchen, um unsere Unwissenheit zu besiegen.
Wenn Er jedoch auf sehr großen Widerstand trifft, mag Er es sich anders überlegen. Er sagt dann vielleicht: „Nun gut, er will weitere hundert Jahre schlafen. Es besteht keine Eile.“ Gott wird Sein Mitleid niemals für immer zurückziehen, egal wie sehr wir uns Seinem Mitleid auch widersetzen. Wir verzögern lediglich unseren Fortschritt vorwärts, aufwärts und einwärts, wenn wir uns Gottes Mitleidsmacht widersetzen. Denn Gottes Mitleidsmacht ist Seine magnetische Kraft, die uns in Sein eigenes Herz zieht, welches reines Licht und Glückseligkeit ist.
Was ist der Unterschied zwischen Gottes Mitleid und Gottes Gnade?
Sri Chinmoy:
Mitleid und Gnade sind ein und dasselbe, doch Mitleid ist viel intensiver. Wenn Gnade voller Intensität ist, wird sie Mitleid genannt. Wasser gibt es überall, aber wenn es in Strömen regnet, kann man sagen, dass Mitleid herab kommt. Es ist wie ein Wolkenbruch von oben, der gewaltige Kraft besitzt. Gnade ist auch Wasser, aber Wasser finden wir hier, dort und überall. Das ist der Unterschied zwischen Mitleid und Gnade.
Würdest du uns bitte etwas über Gnade erzählen?
Sri Chinmoy:
Der Supreme ist allwissend, allmächtig und allgegenwärtig. Er besitzt unterschiedliche Kräfte, aber Seine größte diamantene Kraft ist Seine Gnade. In dem Moment, wo der Supreme Seine Gnade für einen Menschen einsetzt, schenkt Er dem Sucher Seinen eigenen Lebensatem, da der Supreme und Seine Gnade nicht voneinander zu trennen sind. Wann immer wir an den Supreme denken - wenn wir dabei fühlen können, dass es Seine Gnade ist, durch die wir Zugang zu Ihm finden, wird es uns am besten gelingen, Ihn zu empfangen.
Die göttliche Gnade strömt beständig auf uns herab. Diejenigen, die aufrichtig streben, sind sich dieser Gnade bewusst, aber jene, die nicht streben, halten die Türe ihres Herzens stets verschlossen. Wenn wir die Gnade des Supreme fühlen, werden wir sehen, dass Seine unendlichen Qualitäten wie Frieden, Licht und Glückseligkeit bereits in uns eintreten, indem sie unaufhörlich in und durch uns fließen und Teil unseres inneren und äußeren Lebens werden. Wir brauchen nur dem Fluss der Gnade zu folgen, die uns zur Quelle trägt, welche der Supreme ist.
Gottes Gnade gleicht den Sonnenstrahlen. Die Sonne scheint immer, aber was tun wir? Wir stehen spät auf. Anstatt um fünf Uhr dreißig oder um sechs Uhr aufzustehen, stehen wir erst um acht oder neun Uhr auf. Dann erhalten wir nicht mehr den Segen der Morgensonne. Und wenn wir schließlich aufstehen, halten wir alle Türen und Fenster geschlossen und lassen das Sonnenlicht nicht in unser Zimmer herein. Auf gleiche Weise strömt auch Gottes Gnade beständig herab, aber sehr oft erlauben wir der Gnade nicht, in unser System einzutreten. Wir haben Barrieren zwischen Gottes Gnade und unserer eigenen Unwissenheit errichtet. Nur wenn wir die Türe unseres Herzens weit öffnen, kann Gottes Licht in unser Dasein eintreten. Gottes Licht bedeutet Gottes Gnade. Es gibt keinen Unterschied zwischen Gottes Gnade und Gottes Mitleidslicht. Jeden Tag müssen wir unser inneres Gefäß leeren und es mit Gottes Frieden, Licht und Glückseligkeit füllen. Wir sollten fühlen, dass Gottes Licht immer da ist und nur darauf wartet, uns zu erleuchten. Nur dann werden wir fähig sein, Gottes Gnade zu nutzen. Andererseits sollten wir nicht der Enttäuschung verfallen, wenn wir Gottes Gnade verpassen. Heute haben wir die Sonne nicht in unser Zimmer eintreten lassen, aber morgen wird die Sonne auch wieder scheinen. Wenn wir heute der Gnade Gottes nicht erlaubt haben, in uns einzutreten, so geschah es aufgrund unserer Unwissenheit. Morgen werden wir ganz sicher vorbereitet sein, damit Gottes Licht in uns eintreten kann.