Spiritualität
Wie sieht der erste Schritt für einen gewöhnlichen Menschen aus, der noch keinen Kontakt zu spirituellen Lehren hatte und den Weg der Selbst-Verwirklichung gehen möchte?
Sri Chinmoy:
Das Wichtigste ist das letztendliche Ziel. Wenn jemand Selbst-Verwirklichung erlangen möchte, dann ist der erste Schritt, der allererste Schritt, die Annahme des spirituellen Lebens. Ohne das spirituelle Leben anzunehmen kann man Gott nicht verwirklichen. Es ist einfach unmöglich. Das spirituelle Leben ist natürlich ein weites Feld; man sollte wissen, wo man im Moment tatsächlich steht. Wenn jemand als ersten Schritt im spirituellen Leben ein besseres Leben, ein harmonischeres Leben, ein friedlicheres Leben führen möchte, und wenn der Betreffende fühlt, dass der Frieden, die Freude und die Harmonie, die er sucht, noch außerhalb seiner Reichweite liegen, dann sollte er damit beginnen, einige Schriften zu lesen; er sollte ein wenig Erleuchtung aus religiösen und spirituellen Büchern erhalten. Diese Bücher werden ihn bis zu einem gewissen Grad inspirieren, ein inneres Leben zu führen. Wenn der Sucher dann die Bücher studiert hat und von ihnen inspiriert wurde, jedoch nicht in der Lage ist weiter zu gehen, dann sollte er in die Praxis umsetzen, was er in den Büchern gelesen hat. Wenn er diese neuen Grundsätze praktiziert, aber mit seinen Errungenschaften nicht zufrieden ist, dann muss er einen spirituellen Lehrer suchen. Der Lehrer kann ihm in seinem spirituellen Leben helfen und ihm sagen, welche spirituelle Disziplin für ihn erforderlich ist.
Ich muss noch einmal betonen, dass jemand zuallererst sicher sein muss, dass er das spirituelle Leben braucht. Es gibt kein anderes Leben, das ihm Selbst-Erleuchtung geben kann. Wenn er sicher ist, dass es das spirituelle Leben ist, von dem er dies erhalten kann, dann muss er in seinen tieferen Teil eintreten. Mit seinem inneren Ruf, seiner inneren Sehnsucht, mit Gebet und innerem Streben, mit Konzentration und Meditation muss er seine göttliche Reise beginnen.
Wie viele Menschen wenden sich dem spirituellen Leben aus Verzweiflung zu?
Sri Chinmoy:
Ich würde sagen, dass sich die Mehrheit dem spirituellen Leben aus Verzweiflung zuwendet und nicht aus der Notwendigkeit der Seele heraus. Nur sehr wenige Menschen beginnen von Anbeginn ihres Daseins aus dem Bedürfnis der Seele heraus, ein inneres Leben aufzubauen. Die meisten Menschen wenden sich dem inneren Leben aus reiner Frustration zu, wenn die Welt sie gnadenlos quält und sie keine Hoffnung sehen. Aber wenn jemand in das innere Leben eintaucht, muss er sich bewusst sein, dass er es nicht als eine Flucht betrachten sollte. Viele Leute werden sagen, dass das äußere Leben sie enttäuscht hat, und daher wollen sie nun das innere Leben als einen Ausweg annehmen. Aber das innere Leben ist keine Flucht. Das innere Leben wird uns Wahrheit und Licht zeigen. Und mehr noch, es wird uns leiten und uns die Botschaft der Erleuchtung und Verwandlung schenken.
Ich studiere an der Drama School hier in Yale, um Schauspieler zu werden. Ist es möglich, den spirituellen Weg zu gehen und dabei auch diese irdischen Werte beizubehalten, oder muss ich mich völlig dem spirituellen Pfad widmen und alles andere aufgeben?
Sri Chinmoy:
Das ist eine völlig falsche Vorstellung von Spiritualität. Wahre Spiritualität verneint niemals unser irdisches Leben und unsere wichtigen irdischen Werte. Wahre Spiritualität vereinfacht nur unser irdisches Leben; sie reinigt und erleuchtet unser menschliches Dasein. Im Augenblick leben wir in der Unwissenheit. Wir wissen, dass wir in den Fesseln der Unwissenheit gefangen sind, doch Spiritualität zeigt uns, wie wir aus der Unwissenheit herauskommen können, wie wir uns von der Gebundenheit, die wir bewusst oder unbewusst erschaffen haben, befreien können. Wenn du ein Schauspieler sein willst, wird dich Spiritualität niemals davon abhalten. Im Gegenteil, Spiritualität wird dich auf deinem schauspielerischen Weg inspirieren. Spiritualität verneint niemals. Sie ist wie dein Privatlehrer. Sie wird dich privat und im Geheimen lehren, wie du in deinem äußeren wie auch in deinem inneren Leben erfolgreich und bedeutungsvoll sein kannst. Nichts muss aufgegeben werden. Alles muss vergöttlicht und verwandelt werden. Was wirst du erreichen, wenn du diese Welt aufgibst? Nur hier auf Erden kannst du Gott verwirklichen, enthüllen und erfüllen.
Was geschieht, wenn jemand ein spirituelles Leben beginnen will, aber sich an das materielle Leben anpassen muss?
Sri Chinmoy:
Yoga und Leben müssen Hand in Hand gehen. Wir müssen tief nach innen tauchen, um das spirituelle Leben zu entdecken, ohne dabei das materielle Leben zu verneinen. Von innen heraus müssen wir nach außen gehen; aber wir können nicht nach innen gehen, wenn wir an den Werten des äußeren Lebens festhalten. Wir brauchen das innere Leben, im inneren Leben finden wir unendliche Freude, unendlichen Frieden und unendliche Glückseligkeit. Vom inneren Leben bringen wir unsere inneren göttlichen Eigenschaften zum Vorschein. Dann kann das materielle Leben leicht angepasst werden. Tatsächlich erhält das materielle Leben nur dann seine wahre Bedeutung, wenn es vom inneren Leben unterstützt wird. Im Augenblick jedoch versuchen wir, das materielle Leben vom spirituellen Leben zu trennen. Im Grunde gibt es keine solche Trennung, aber leider glauben viele Leute, dass man entweder das materielle Leben annehmen und in seinen Vergnügungen schwelgen oder aber ein völliger Asket sein muss, dass es keinen Kompromiss geben kann. Das ist jedoch nicht richtig. Das materielle Leben muss angenommen werden, aber nicht im Sinne eines völligen darin Schwelgens. Das materielle Leben muss angenommen werden für die Manifestation unserer göttlichen inneren Eigenschaften. Durch das materielle Leben werden wir die Botschaft unseres inneren Lebens erfüllen müssen. Und wie können wir das erreichen?
Wir sollten in unserem täglichen Leben danach zu streben versuchen, das materielle mit dem spirituellen Leben zu verbinden. Das ist möglich, wenn wir uns an etwas Höheres oder Tieferes erinnern. Was ist dieses Höhere oder Tiefere? Es ist Gott, das Göttliche. Nur wenn Gott uns zuerst, vor allem anderen in den Sinn kommt, wird Gott durch das spirituelle Leben und vom spirituellen Leben in das materielle Leben fließen. Gott muss im eigenen Leben an erster Stelle stehen, ohne dass wir das materielle Leben oder die äußere Welt verneinen. Wenn wir Gott an erste Stelle setzen, wird Gott für uns in die äußere Welt, in das materielle Leben eintreten. Wenn wir jedoch die materielle Welt an erste Stelle setzen, können wir Gott nicht erreichen, weil der Ablauf falsch ist. Wir müssen von Gott aus in das materielle Leben eintreten. Gottes Gegenwart erblüht in unserem inneren Leben, und aus dem inneren Leben können und müssen wir Ihn in das äußere Leben bringen. Auf diese Weise können wir uns an das materielle Leben anpassen und es mit dem spirituellen Leben eins werden lassen.
Ist das spirituelle Leben eine Flucht vor der Wirklichkeit?
Sri Chinmoy:
Das spirituelle Leben ist niemals eine Flucht vor der Wirklichkeit. Im Gegenteil, das spirituelle Leben ist die bewusste und spontane Annahme der Wirklichkeit in ihrer Ganzheit. Für einen spirituellen Sucher ist der Gedanke an eine Flucht vor der Wirklichkeit eine Absurdität plus eine Unmöglichkeit, da Spiritualität und Wirklichkeit einander brauchen, um zutiefst erfüllt zu werden. Ohne die Seele der Wirklichkeit ist Spiritualität mehr als nutzlos. Ohne den Atem der Spiritualität ist die Wirklichkeit mehr als bedeutungslos. Spiritualität mit Wirklichkeit bedeutet den inneren Ruf des Menschen nach vollkommener Vollkommenheit. Wirklichkeit mit Spiritualität bedeutet Gottes allmächtigen Willen für vollständige und absolute Manifestation.
Die Annahme des Lebens in einer göttlichen Haltung ist nicht nur eine erhabene Idee, sondern das eigentliche Ideal des Lebens. Dieses Ideal des Lebens wird durch Gottes Seelenerhebende Inspiration und durch das Lebens-erbauende- innere Streben des Menschen verwirklicht, enthüllt und manifestiert. Die Annahme des Lebens ist der göttliche Stolz wahrer Spiritualität. Ein spirituelles Leben zu führen, ist unsere einzige Verantwortung.
Flucht ist ein niederer Gedanke. Er handelt wie ein Dieb, der schlimmstmögliche Dieb. Zum Herzen düsterer Finsternis hat Flucht einen leichten und freien Zugang. Derjenige, der den Gedanken unmittelbarer Flucht hegt, begeht unfehlbar schleichenden Selbstmord.
Nein, wir dürfen nie feige die Flucht ergreifen. Wir müssen stets mutig sein. Göttlicher Mut ist unser Geburtsrecht. Wir sind die Helden-Krieger der höchsten Wirklichkeit, auserwählt, um gegen die wuchernde, brütende und drohende Unwissenheits-Nacht zu kämpfen.
Was ist der Unterschied zwischen spiritueller Stärke und spiritueller Kraft?
Sri Chinmoy:
Wenn wir das Wort „Stärke“ verwenden, beziehen wir uns normalerweise auf die körperliche Stärke, die vitale Stärke, die mentale Stärke oder manchmal sogar auf die innere Stärke. Wenn wir das Wort „Kraft“ verwenden, versuchen wir eine göttliche Kraft zu beschreiben, welche die Nachtvertreibende Fähigkeit und die Seelenerfüllende Fähigkeit unseres inneren Wesens ist. Im spirituellen Leben ist es immer besser, das Wort „Kraft“ anstatt „Stärke“ zu verwenden. Denn Kraft gibt uns im Gegensatz zu Stärke sofort das Gefühl eines wesentlichen Aspektes von Gott. Stärke ist ans Physische gebunden und kann nur in der physischen Welt angewendet werden. Kraft kann auch in der physischen Welt und für das Physische angewendet werden, aber sie ist nicht daran gebunden. Ihr Zuhause ist weit, weit oben in den höchsten Bereichen des unendlichen Bewusstseins.
Bedeuten die Worte „psychisch“ und „spirituell“ dasselbe?
Sri Chinmoy:
Nein, das Wort „psychisch“ und das Wort „spirituell“ sind nicht dasselbe. Gebrauchen wir anstelle des Wortes „psychisch“ lieber den Ausdruck „psychisches Wesen“. Das vereinfacht das Ganze. Das psychische Wesen ist der bewusste Vertreter der Seele. Es ist der strebende, göttliche Funke in uns. Es ist von erhabener Schönheit und es ist das liebste Kind des Supreme. Das psychische Wesen ist etwas, das nur Menschen haben. Tiere, Pflanzen und stoffliche Dinge haben kein psychisches Wesen. Dagegen hat jedes Objekt, ob belebt oder unbelebt, eine Seele.
Alles, was dieses göttliche Wesen betrifft oder zu ihm gehört, wird als „psychisch“ beschrieben. Doch das Wort „spirituell“ ist allgemeiner und alldurchdringender. Es schließt und hüllt alles ein, einschließlich des psychischen Wesens. Du kannst das Wort „spirituell“ mit einem Garten vergleichen und das Wort „psychisch“ mit einem wunderschönen Mangobaum, der zahllose köstliche, Energie spendende Mangos trägt.
Was ist Spiritualität und was ist sie nicht?
Sri Chinmoy:
Spiritualität ist die grenzenlose Freiheit des Menschen in seinem Lebens-Boot; die Freiheit seiner Lebens-Reise, die Freiheit von seinen Lebens-Qualen und die Freiheit jenseits seiner Lebens-Errungenschaften.
In der Spiritualität liegt des Menschen weiteste Schau. In der Spiritualität liegt des Menschen naheste Wirklichkeit. Gott hat Mitleid. Der Mensch hat inneres Streben. Spiritualität ist das Bewusstseins-Licht, dass das innere Streben des Menschen und das Mitleid Gottes vereint. Spiritualität sagt dem Menschen, dass er der verhüllte Gott ist und Gott der enthüllte Mensch.
Spiritualität ist keine Flucht aus der Welt der Wirklichkeit. Spiritualität sagt uns, was die wahre Wirklichkeit ist und wie wir sie hier auf Erden entdecken können. Spiritualität ist nicht die Verneinung des Lebens, sondern die reinste Annahme des Lebens. Das Leben muss vorbehaltlos angenommen werden. Das Leben muss seelenvoll verwirklicht werden. Das Leben muss vollständig verwandelt werden. Das Leben muss ewig gelebt werden.
Spiritualität ist nicht das Lied der Unwissenheit. Sie ist die Mutter der Konzentration, Meditation und Verwirklichung. Konzentration trägt mich dynamisch zu Gott. Meditation bringt schweigend Gott zu mir. Verwirklichung bringt mich weder zu Gott noch bringt sie Gott zu mir. Verwirklichung enthüllt mir, dass Gott der blaue Vogel der Wirklichkeit der Unendlichkeit ist, und dass ich die goldenen Flügel der Wahrheit der Göttlichkeit bin.