Schüler-Meister-Beziehung
Erstreckt sich der Schutz des Meisters auch auf die Familie eines Schülers?
Sri Chinmoy:
Ein Schüler von Ramdas Kathiya Baba musste für einige Tage geschäftlich die Stadt verlassen. Aus verschiedenen Gründen konnte er seine junge Frau nicht mitnehmen, obwohl sie schreckliche Angst hatte, nachts allein zu bleiben. Da sagte der Meister zum Ehemann: „Sag deiner Frau, dass sie sich nicht ängstigen soll. Ich werde auf sie aufpassen.“
In der gleichen Nacht träumte die junge Frau, dass ihr ganzes Zimmer von Licht überflutet war. Als sie aufwachte und die Augen öffnete, sah sie den Meister in einer Ecke stehen. Es war nicht der stoffliche Körper des Meisters, den sie sah, sondern sein leuchtender Subtilkörper, aber sie glaubte, es sei sein richtiger stofflicher Körper. Der Meister sagte zu ihr: „Mein Kind, bis dein Ehemann zurückkommt, fühle bitte immer, dass ich hier bin, um dich zu beschützen“, und der subtile Körper des Meisters mit seiner Leuchtkraft beschützte sie, bis ihr Mann zurückkehrte.
Menschliche Verantwortung ist so gestaltet, dass wir sie entweder verkleinern oder vergrößern können, zusammenziehen oder ausdehnen, verringern oder anwachsen lassen können. Im Fall eines spirituellen Meisters wächst nur seine Verantwortung in jedem Augenblick. Ein spiritueller Meister genießt das Wachsen seiner Verantwortlichkeit, denn seine Verantwortlichkeit ist nichts anderes als eine goldene Gelegenheit für ihn, mehr göttlichen Frieden, göttliches Licht und göttliche Glückseligkeit auf Erden zu manifestieren.
In diesem Fall zeigte Ramdas, dass ein spiritueller Meister sich nicht nur um die Schüler, die ihm lieb sind, kümmert, sondern auch um jene, die mit ihnen eng verbunden sind. Der Lehrer nimmt den Schüler nicht nur mit dem an, was er ist, sondern auch mit dem, was er hat.
Wenn sich der Meister vom Erdbewusstsein zurückzieht, sollten dann seine Schüler anderen helfen?
Sri Chinmoy:
Wenn ein Schüler von seinem Meister Hilfe erhält, ist er nicht verpflichtet, anderen zu helfen. Die Beziehung zwischen einem Meister und einem Schüler beruht auf Gegenseitigkeit. Weil ich dir Mitleid gebe, gibst du mir deine Widmung. Wenn ich ein Lehrer in der äußeren Welt bin und du etwas von mir lernst, dann wirst du auch ein Lehrer. Wenn du das Alphabet gelernt hast, kannst du es lehren. Im spirituellen Leben jedoch ist es anders. Solange du kein solides Wissen hast, kannst du nicht lehren. Du wirst Hatha Yoga unterrichten können, aber wenn du echte Meditation lehren willst, ist das unmöglich, weil du nicht fähig sein wirst, das Bewusstsein der Sucher zu erheben.
Wie wird man ein vollkommener Schüler?
Sri Chinmoy:
In unserem spirituellen Leben – sagen wir in der Meditation – stellen wir Gott zufrieden, aber in der Widmung unseres Handelns sind wir nirgendwo. Obwohl wir keine Hilfe verdienen, macht uns der Meister mit seiner Gnade vollkommen. Manchmal geschieht es, dass ein Schüler über einen bestimmten Punkt nicht hinausgehen kann. Dann gibt ihm der Meister die Fähigkeit dazu.
Bedingungslose Gnade macht den Schüler vollkommen. Bis er sein Ziel erreicht, wird der Schüler wieder und wieder auf dem Weg straucheln. Bis er vollkommen geworden ist, wird er das strebende Bewusstsein der Menschheit aufhalten. Aber wenn er vollkommen oder verwirklicht ist, wird der Schüler unweigerlich das strebende Bewusstsein der Menschheit erheben.
Wie geht ein Meister mit einem törichten Schüler um?
Sri Chinmoy:
Egal wie unaufrichtig, wie dumm, wie töricht oder wie unerleuchtet ein Schüler sein mag, der Meister hat eine sehr hohe Meinung von ihm. Er sieht in jedem Schüler die lebendige Göttlichkeit des Supreme. Er sieht, er weiß und er fühlt, dass jeder Schüler eines Tages das vollkommene Ebenbild Gottes sein und Gott vollständig verwirklichen wird.
Wer sollte an erster Stelle stehen, der Schüler oder der Meister?
Sri Chinmoy:
Ramdas Kathiya Baba und sein Meister, Devadas Maharaj, waren beide starke Raucher und sie nahmen oft Arsen, um sich warm zu halten. Eines Abends bat Devadas seine Schüler, für zwei Rupien Arsen kaufen zu gehen, aber seine Schüler hatten kein Geld und zögerten auch ein wenig, um diese Zeit in die Stadt zu gehen. Ramdas bot sich an zu gehen, aber auch er hatte kein Geld. Der Meister sagte: „Mach dir keine Sorgen. Geh einfach in die Stadt. Dort wird jemand sein, der dir Geld geben wird.“
Ramdas glaubte seinem Meister und ging ohne Geld los. Als er die Stadt erreichte, war es schon ziemlich spät und alles war dunkel. Er sah nur in einem Haus Licht, also ging er dorthin und klopfte an die Tür. Als der Besitzer öffnete, war er so glücklich, einen Sadhu dort stehen zu sehen. Er sagte: „Den ganzen Tag habe ich daran gedacht, einem Sadhu zwei Rupien zu schenken, und jetzt bist zu gekommen. Ich bin dir so dankbar. Bitte nimm diese zwei Rupien.“
Ramdas nahm das Geld und kaufte für zwei Rupien Arsen. Auf seinem Rückweg zum Ashram dachte er, dass er sich eine sehr kleine Menge davon nehmen könne, da er ja so viel bekommen hatte und sein Meister es gar nicht bemerken würde.
Ramdas war so glücklich, das Arsen zu bringen und seinem Meister anzubieten, doch Devadas Maharaj machte ein trauriges Gesicht. Ramdas sagte: „Zu dieser Stunde bin ich den ganzen Weg in die Stadt gegangen und habe dir Arsen geholt. Wie kommt es, dass du traurig bist?“
Der Meister antwortete: „Ich bin traurig, weil du in deinem Leben an erster Stelle stehst und nicht ich. Du hättest mir die gesamte Menge geben sollen; dann hätte ich dir davon etwas gegeben. Denke immer zuerst an mich. Nur dann werde ich mit dir zufrieden sein, und ich werde dir nicht nur mehr geben als du brauchst, sondern auch mehr als du verdienst.“
Der Glauben des Meisters an den Schüler und der Glauben des Schülers an den Meister sind gleichermaßen wichtig. Manchmal jedoch enthüllt der Meister dem Schüler nicht alle Aspekte des Wirklichkeits-Baumes, weil es den unreifen Verstand des Schülers verwirren könnte. Wenn der Meister die Geschichte des Wirklichkeits-Lebens nicht auf einmal erzählt, bedeutet das nicht, dass er gemein oder engherzig ist. Der Meister fühlt nur, dass der Schüler wie ein Kind die Dinge Stück für Stück aufnehmen muss, damit er alles verarbeiten kann.
Was das Verhalten des Schülers gegenüber seinem Meister anbetrifft, so liegt die Geschichte etwas anders, denn egal was der Schüler hat oder was er ist, es wird den erleuchteten Verstand des Meisters nicht verwirren. Der Meister gibt dem Schüler entsprechend dessen begrenzter Empfänglichkeit und leicht messbarer Aufnahmefähigkeit; wenn jedoch der Schüler dem Meister etwas geben will, so kann er das uneingeschränkt tun, denn die Empfänglichkeit und Aufnahmefähigkeit des Meisters sind unermesslich. Wenn der Schüler dem Meister nicht sein ganzes Dasein gibt, ist nicht der Meister der Verlierer - bei weitem nicht. Der Schüler allerdings schwächt seine Aufnahmefähigkeit, begrenzt seine Schau des Meisters und fällt aus dem Wirklichkeits-Einssein mit dem Meister herab. Und schließlich bedrohen der Unsicherheits-Drache und das Undankbarkeits-Insekt das strebende Dasein des Schülers.
Gib daher dem Meister vorbehaltlos, was du hast und was du bist. Der Meister wird dir gemäß deinem Bedürfnis und Gottes Bedürfnis geben. Die Erfüllung deiner Bedürfnisse hängt ganz und gar von Gottes Willen ab.
Und wie fühlt es sich für einen Schüler an, ein Mitglied des inneren Kreises des Meisters zu sein?
Sri Chinmoy:
Wenn der Schüler ein Mitglied des inneren Kreises des Meisters wird, dann sei versichert, dass er in jeder Handlung die Gegenwart des Meisters fühlen wird - selbst wenn er nur ein Glas Wasser trinkt oder zum Supermarkt geht, um etwas einzukaufen. Wenn du Wasser trinkst, wirst du die Existenz des Meisters im Wasser sehen, und während das Wasser in dich eintritt, wirst du fühlen, dass du die Existenz des Meisters bist. Und wenn du dann mit dem Verkäufer im Supermarkt sprichst, wirst du die Gegenwart des Meisters in ihm sehen, selbst wenn er sehr unhöflich ist. Er war nur noch nicht in der Lage, diese Göttlichkeit zum Vorschein zu bringen. Die äußere Erscheinung ist sehr grob und roh, aber in seiner inneren Existenz wirst du die Gegenwart deines Meisters spüren.
Willst du sagen, dass der Meister die Rolle einer Brücke zwischen der Seele des Schülers und dem Supreme spielt?
Sri Chinmoy:
In manchen Fällen spielt der Meister die Rolle einer Brücke zwischen der Seele eines Suchers und dem Supreme. Aber für die liebsten und engsten Schüler ist der Meister mehr als eine Brücke; er ist auch das Ziel. Der Supreme sagt diesen Seelen: „Trennt nicht den Meister von Mir.“
Für die liebsten und engsten Schüler muss der Meister die Rolle des Supreme Selbst spielen, weil der Meister zu dieser Zeit für die Verwirklichung, Vervollkommnung und Manifestation jener Seelen voll verantwortlich ist. Der Meister wird tatsächlich zum Inneren Führer für diejenigen Seelen, die seine sehr engen, sehr vertrauten, erstklassigen Schüler sind: für seinen inneren Kreis.
Wie kann man immer ein erstklassiger Schüler bleiben?
Sri Chinmoy:
Wenn ein Schüler ein Leben beständiger und bewusster Selbsthingabe an den Meister führen kann, dann wird er ihm immer äußerst nahe stehen. Wenn seine Selbsthingabe beständig und bewusst ist, wenn er zu einem bewussten, beständigen und hingegebenen Instrument im Herzen seines Meisters oder zu Füßen seines Meisters wird, dann wird er immer ein erstklassiger Schüler bleiben. Ansonsten besteht die Möglichkeit, dass er fällt.
Was ist besser – ein erstklassiger Schüler oder eine Million von Schülern anderer Klassen?
Sri Chinmoy:
Ein vollkommener Schüler ist unendlich viel wichtiger als Tausende und Abertausende von weniger guten Schülern. Das einzige ist, dass der vollkommene Schüler, den du einmal erhalten wirst, zwangsläufig aus diesen Tausenden hervorgehen muss. Er wird nicht fixfertig einfach so vom Himmel fallen. Es ist wie bei der Evolution. Wir kommen aus dem Tierreich; irgendwann einmal waren wir Affen, Esel, Pferde und dergleichen. Jetzt gibt es einen gewaltigen Unterschied. Wir haben zwar ungöttliche Eigenschaften, aber sie werden allmählich verwandelt. Wenn ein Mensch seine ungöttlichen Eigenschaften überwindet, wird er göttlich. Diese Verwandlung findet jedoch nicht von heute auf morgen statt.
Du hast schon viele, viele Tierinkarnationen und viele menschliche Leben gehabt. Das menschliche Leben ist zu einem gewissen Grad vollkommener als das tierische Leben. Aber das göttliche Leben, in das du hineinwächst, kommt langsam und stetig, es kommt nicht urplötzlich. Im Vergleich zu vorher sind wir göttlicher, aber wir müssen wissen, dass größere Vollkommenheit sich aus geringerer Vollkommenheit entwickelt. Die Vollkommenheit eines Tigers besteht darin, viele Tiere als Nahrung zu verschlingen. Aber Gottes Vollkommenheit besteht darin, Liebe, Mitleid und Anteilnahme zu zeigen.
Um auf deine Frage zurückzukommen: Ein absolut erstklassiger Schüler ist eine Seltenheit in Gottes Schöpfung. Aber spirituelle Meister haben unendliche Bewunderung, Mitleid, Liebe, Anteilnahme und Stolz für das, was ihre engsten Schüler getan haben. Aus einer Laune des Augenblicks heraus mögen sie jemandem sagen, er sei ein vollkommener Schüler, aber sie selbst wie auch die Schüler wissen in ihrem Herzen, ob sie wirklich vollkommene Instrumente sind.
Wie ist es, dein erstklassiger Schüler zu sein?
Sri Chinmoy:
In der inneren Welt weiß ich, was ich für diejenigen bin, die meine erstklassigen Schüler sind, die völlig eins sind mit mir.
Wie ein Töpfer gestalte ich jeden Tag ihr inneres Leben. Ich nehme den göttlichen Ton und forme ihn einfach. Einige meiner Schüler haben diese Art von Verbindung zu mir. Ihr innerer Fortschritt, ihr Leben, alles wird nicht nur in dieser Inkarnation, sondern in allen zukünftigen Inkarnationen von mir abhängen: nicht von dem Menschen in mir, sondern vom Supreme in mir. Nicht dass ich sie beherrschen wollte oder dass ich mehr Fähigkeiten habe als sie! Nein, sie und der Supreme wollten von mir, dass ich diese Art von Einssein mit ihnen habe. Durch dieses Einssein wird der Meister manifestiert und der Schüler vervollkommnet.