Reinheit
Was meinst du, wenn du sagst „Reinheit ist selbstloses Einssein mit Gott“?
Sri Chinmoy:
Einst lebte ein frommer junger Mann namens Nagamuddin, der einer muslimischen Familie entstammte. Er pflegte Tag und Nacht zu studieren. Sein Vater starb, als er noch sehr jung war, und auf einmal musste Nagamuddin seine arme Mutter unterstützen. Er hielt überall Ausschau nach einer Arbeit, aber es gelang ihm nicht, eine zu finden.
Eines Tages ging er zu einem muslimischen Priester und bat ihn, ihm irgendeine Arbeit zu geben, obwohl er sagte, dass er glücklich wäre, wenn er auch Priester werden könnte. Der Priester sagte: „Ich werde dir eine Arbeit geben, aber ich kann dich nicht zum Priester machen, denn du wirst mich und jeden anderen Priester auf Erden übertreffen. Du hast keine Vorstellung davon, wie groß du bist. Eines Tages wird dich jeder kennen. Selbst der Herrscher von Delhi wird zu dir kommen, um dich zu ehren.“
Seit langem schon brannte in Nagamuddin das Verlangen, Gott zu verwirklichen. Er hatte überall nach seinem Guru gesucht. Eines Tages ging er schließlich zu einem sehr spirituellen Mann namens Phariduddin und bat ihn: „Bitte werde mein Guru. Ich bin es müde, nach einem Guru zu suchen.“
Phariduddin nahm Nagamuddin als seinen ergebenen Schüler an, und Nagamuddin lernte kochen, damit er die Mahlzeiten für seinen Meister zubereiten konnte. Er genoss die tiefe Zuneigung seines Meisters. Aber der Meister und sein Schüler waren sehr, sehr arm. Manchmal hatten sie tagelang nichts zu essen. Sie verbrachten die meiste Zeit damit, zu beten und zu meditieren und ignorierten völlig die Bedürfnisse des Körpers.
Eines Tages gab jemand Nagamuddin etwas Mehl, damit er damit Brot zubereiten konnte. Nagamuddin hatte kein Geld, und er wusste, dass auch sein Meister kein Geld hatte, um eine der nötigen Zutaten für das Brot zu kaufen: Salz. So ging er zum Dorfmarkt und lieh von einem Laden etwas Salz. Der Ladeninhaber gab ihm bereitwillig das Salz, weil er wusste, dass Nagamuddin ein spiritueller Mensch und sein Meister sehr groß war.
Nagamuddin kehrte mit dem Salz zurück und bereitete für seinen Meister ein köstliches Brot. Doch als er Phariduddin einige Stücke des Brotes anbot, geschah etwas Ungewöhnliches. Wenn er seinem Meister an anderen Tagen etwas gab, aß es der Meister jeweils mit Freude und segnete Nagamuddin dafür. An diesem Tag jedoch sagte Phariduddin: „Ich werde dein Brot nicht essen; es ist große Unreinheit darin.“
Weder der Meister noch der Schüler hatten die letzten drei Tage etwas zu sich genommen, aber weil große Unreinheit in dem Essen war, wollte es der Meister nicht essen. Nagamuddin fühlte sich erbärmlich. Er konnte es sich nicht erklären.
Dann sagte der Meister: „Ich kann deutlich sehen, dass du von einem Ladeninhaber Salz geborgt hast, um dieses Brot zuzubereiten. Das ist allerdings eine beschämende Tat. Borge niemals etwas von irgendjemanden. Wenn du etwas borgst, sinkt dein Bewusstsein und du wirst unrein. Der Mann, der dir das Salz gab, ist voller Stolz, dass er dir etwas gegeben hat, und dadurch hegt er Unreinheit. Und wenn du etwas borgst, fällst du selbst Ängsten und Sorgen zum Opfer. Ängste und Sorgen sind ebenfalls eine Art von Unreinheit. Wenn du nicht vollkommene Reinheit in deinem System, in jeder Zelle deines Körpers hast, wirst du nicht fähig sein, Gott zu verwirklichen. Deshalb borge von jetzt an nichts mehr, weder Geld noch materielle Dinge. Sonst werden Ängste und Sorgen dich angreifen und die Reinheit wird dich verlassen.“
Wenn du Reinheit hast, hast du alles. Es gibt zwei Wege, um Reinheit zu erlangen. Der eine Weg ist, Gott in jedem Menschen bewusst und andauernd zu sehen. Der andere Weg ist, sich Gott vorzustellen und bewusst so oft wie möglich Seinen Namen zu wiederholen. Wenn du Reinheit hast, brauchst du nicht zu Gott zu gehen. Gott Selbst wird dich Seine unendliche Göttlichkeit sehen lassen. Was Gott ist, wird sich in dir widerspiegeln. Du wirst ein getreues Abbild Gottes sein.
Reinheit beschleunigt Gottes Stunde. Reinheit verkörpert Gottes Kraft. Wenn du Reinheit hast, gibt es nichts, was du nicht erreichen kannst. Reinheit ist der Vorbote von selbstlosem Einssein, von vollkommenem, selbstlosem, ewigem Einssein mit Gott.
Bitte erzähle uns etwas über die Kraft der Reinheit.
Sri Chinmoy:
Reinheit ist das Licht unserer Seele, die ihre Göttlichkeit durch den Körper, das Vitale und den Verstand ausdrückt. Wenn wir rein sind, gewinnen wir alles. Wenn wir unsere Reinheit bewahren können, werden wir nie etwas Wertvolles verlieren. Heute mögen wir großartige Gedanken oder große innere Kraft haben, aber morgen schon können wir sie verlieren, wenn wir nicht rein sind. Reinheit ist der Atem des Höchsten. Wenn Reinheit uns verlässt, verlässt uns auch der Atem des Supreme und wir bleiben mit unserem menschlichen Atem zurück.
Reinheit bedeutet, den Geboten unseres Inneren Führers zu folgen, und ungöttlichen Kräften nicht zu erlauben, in uns einzudringen. Wo immer es an Reinheit mangelt, herrscht Dunkelheit, die der Vorbote des Todes ist. Was wir heute Dunkelheit nennen, ist morgen Tod für uns. Ohne Reinheit gibt es keine Gewissheit. Ohne Reinheit gibt es keine Spontaneität. Ohne Reinheit gibt es keinen beständigen Fluss der Göttlichkeit in uns.
Reinheit ist wie ein göttlicher Magnet. Sie zieht alle göttlichen Eigenschaften in uns hinein. Wenn wir Reinheit haben, ist die Welt voller Stolz auf uns. Wenn Mutter Erde eine einzige reine Seele beherbergt, kennt ihre Freude keine Grenzen. Sie sagt: „Hier ist endlich eine Seele, auf die ich mich verlassen kann.“
Wenn Reinheit einmal begründet ist, vor allem im Vitalen, ist vieles im inneren und äußeren Leben erreicht. In menschlicher Reinheit wohnt Gottes höchste Göttlichkeit. Die Reinheit des Menschen ist der Atem Gottes. Reinheit ist eine gewaltige Kraft. Wir können durch Reinheit alles erreichen. Doch wenn wir unsere Reinheit verlieren, selbst wenn wir Kraft, Reichtum oder Einfluss besitzen, können wir leicht fallen und zugrunde gehen.
Alle spirituellen Sucher ohne Ausnahme haben die Notwendigkeit der Reinheit gesehen und gefühlt. Heute erklimmen sie dank ihrer höchsten Reinheit den inneren Mount Everest, doch morgen fallen sie in den tiefsten Abgrund. Wenn Reinheit verloren ist, ist alles verloren; dann ist Gott selbst verloren. Wenn Reinheit gewonnen ist, ist die Welt gewonnen, ist das ganze Universum gewonnen.
Ist es möglich, dass eine Person unbeabsichtigt in die Schwingungen von jemandem hineingezogen wird, der unrein ist?
Sri Chinmoy:
Ja, das ist gut möglich. Obwohl man selbst absolut rein sein mag, kann man der Unreinheit anderer zum Opfer fallen. Das geschieht, wenn eine Person, welche Reinheit hat, nicht genug innere Kraft besitzt, um zu verhindern, dass die Unreinheit des anderen in ihr System eindringt. Aus diesem Grund raten spirituelle Lehrer Suchern sehr oft, nicht mit Leuten zusammen zu sein, die unrein sind. Die Sucher mögen selbst absolut rein sein, aber wenn sie nicht zugleich auch sehr stark sind, sind sie hilflos. Dann kann ihre Reinheit wie eine Rose zerpflückt werden. Die Rose ist wunderschön anzusehen, denn sie ist die Verkörperung der Reinheit. Aber wenn jemand will, kann er die Rose leicht in Stücke reißen.
In unserem täglichen Leben treffen wir sehr oft auf Menschen und Orte, die sehr unrein sind. Wenn eine spirituelle Person die Straße entlanggeht, kann sie an einer bestimmten Stelle große Unreinheit wahrnehmen, während ein gewöhnlicher Mensch vielleicht gar nichts bemerkt. Für einen gewöhnlichen Menschen sind alle Orte praktisch gleich.
Was ist die höchste Art der Reinheit, nach der ich streben kann?
Sri Chinmoy:
Nach Reinheit im Physischen. Du solltest immer versuchen, Licht in den unstrebsamen Körper herab zu rufen. Das niedere Physische und das emotionale Vitale unterhalb des Nabels müssen vollständig gereinigt werden. Die Menschen haben bis zu einem gewissen Grad Reinheit im Herzen. Im Verstand ist das Maß sehr gering. Im Vitalen ist Reinheit völlig vermischt mit Unreinheit. Dort spielen Dynamik und Aggression miteinander, aber Aggression ist Unreinheit und Dynamik ist Reinheit. Unterhalb des Vitalen ist das Physische. Dort herrscht infolge von Trägheit und Faulheit tiefe Dunkelheit. Und wo Dunkelheit ist, kann man sicher sein, dass Unreinheit regiert.
Du musst nach Reinheit im Grobphysischen streben. Es ist das Physische in dir, das eine radikale Verwandlung braucht, und dafür ist physische Reinheit notwendig. Reinheit im Physischen kann nur dadurch begründet werden, dass man Licht von oben in das physische und niedere vitale Bewusstsein herab bringt, besonders unterhalb des Nabelzentrums. Wie erreicht man das? Durch beständiges erhebendes Gebet und einen beständigen inneren Ruf nach Licht. Licht und Dunkelheit können nicht zusammen bleiben; es ist unmöglich. Genauso können auch Reinheit und Unreinheit nicht zusammen bleiben. Wenn du um Reinheit betest, musst du fühlen, dass du eigentlich Licht brauchst. Und du darfst das Wort „Reinheit“ nicht wie ein Papagei wiederholen. Du solltest auf das transzendentale Licht meditieren. Wenn Licht in dein emotionales Vitales und in deinen physischen Körper herab kommt, wird das Licht automatisch spontan die bewussten und die unbewussten oder niederen Welten in dir reinigen. Zuerst reinigt und dann erleuchtet es dein Bewusstsein, welches jetzt unbewusst die physische Wahrheit ausdrückt, die Welt der Versuchung, der Frustration und der Zerstörung.
Welche Rolle spielt Reinheit in unserem spirituellen Leben?
Sri Chinmoy:
Reinheit! Reinheit! Reinheit! Wir lieben dich. Wir wollen dich. Wir brauchen dich. Bleibe in unseren Gedanken! Bleibe in unseren Taten! Bleibe im Atem unseres Lebens!
Wie können wir rein sein? Wir können durch Selbstbeherrschung rein sein. Wir können unsere Sinne beherrschen. Es ist unglaublich schwer, aber es ist nicht unmöglich.
„Ich werde meine Sinne beherrschen. Ich werde meine Leidenschaften besiegen.“ Dieser Ansatz kann uns nicht das bringen, was wir wirklich wollen. Der hungrige Löwe, der in unseren Sinnen lebt, und der hungrige Tiger, der in unseren Leidenschaften lebt, werden uns nicht einfach verlassen, nur weil wir den Gedanken wiederholen: „Ich werde meine Sinne beherrschen und meine Leidenschaften besiegen“. Diese Methode ist keine Hilfe.
Wir müssen unseren Verstand fest auf Gott richten. Zu unserem größten Erstaunen verlassen uns der Löwe und der Tiger der Unreinheit, die nunmehr gezähmt sind, aus eigenem Antrieb, wenn sie sehen, dass wir zu arm geworden sind, um ihnen Nahrung zu geben. Aber in Wirklichkeit sind wir nicht im Geringsten arm geworden. Im Gegenteil, wir sind unendlich viel stärker und reicher geworden, weil Gottes Wille unseren Körper, unseren Verstand und unser Herz belebt. Unseren Körper, unseren Verstand und unser Herz fest auf das Göttliche zu richten, ist der richtige Weg. Je näher wir dem Licht sind, desto weiter entfernt sind wir von der Dunkelheit.
Reinheit kommt nicht auf einmal. Es braucht Zeit. Wir müssen tief nach innen tauchen und uns mit festem Glauben in der Kontemplation Gottes verlieren. Wir brauchen nicht zur Reinheit zu gehen, die Reinheit wird zu uns kommen. Und Reinheit kommt nicht allein. Sie bringt ewig währende Freude mit sich. Diese göttliche Freude ist der einzige Zweck unseres Lebens. Gott enthüllt Sich völlig und manifestiert Sich uneingeschränkt nur, wenn wir diese innere Freude haben.
Die Welt gibt uns Wünsche und Begierden. Gott gibt uns Gebete. Die Welt gibt uns Knechtschaft. Gott gibt uns Freiheit: Freiheit von Begrenzung, Freiheit von Unwissenheit.
Wir sind die Spieler. Wir können entweder Fußball oder Kricket spielen. Wir haben die freie Wahl. Ebenso sind wir es, die entweder Reinheit oder Unreinheit wählen können, um damit zu spielen. Der Spieler ist der Meister des Spiels und nicht umgekehrt.