Wünsche und Begierden

Irgendwann macht jeder die Erfahrung, dass die Erfüllung von Wünschen und Begierden keine wahre Erfüllung bedeutet. Verlangen bindet uns, inneres Streben befreit. Sri Chinmoy rät, sich immer auf das Positive zu konzentrieren, auf unser Ziel. Dann kann das, was uns bindet, transformiert werden.

Was für Wünsche sind es denn, die du nicht erfüllen kannst?

Sri Chinmoy:
Es gibt viele, viele Dinge, die ich dir nicht werde geben können, während andere sie dir geben können oder du sie von der äußeren Welt erhalten kannst. Ich habe nicht die Fähigkeit, diese Art von äußeren Wünschen zu erfüllen. Wenn es darum geht, deine Wünsche oder Forderungen zu erfüllen, dann bin ich nicht die richtige Person dafür. Aber es kann sein, dass ich aus meinem Mitleid heraus versuche, sie zu erfüllen. Ich erfülle die äußere Forderung eines Schülers aus Mitleid. Wenn ich dann sehe, dass der Schüler in seinem spirituellen Leben langsamer wird, fühle ich, dass ich die Verantwortung dafür trage, weil ich den Fehler gemacht habe. Dann nehme ich den Betreffenden auf meine Schultern und laufe mit ihm. Wenn ich ihn dann wieder auf seine normale Geschwindigkeit zurückgebracht habe, sage ich zu ihm: „So, nun kannst du wieder alleine laufen.“ Aber einige Tage später wird er wieder langsamer werden und zurückfallen. Und ich muss ihn wieder auf meine Schultern setzen.

Ist es nicht die Pflicht eines Meisters zu versuchen, die Bedürfnisse und Wünsche seiner Jünger zu erfüllen?

Sri Chinmoy:
Ein spiritueller Meister versucht, seine Schüler auf allen Ebenen zufrieden zu stellen. Manchmal ist er erfolgreich, manchmal nicht. Manchmal erhält er von ihnen hundert von hundert Punkten; manchmal erhält er null von hundert Punkten.
Es ist dem Meister nicht immer möglich, seine Schüler zufrieden zu stellen. Manchmal glaubt ein Schüler, dass der Meister lieblos ist oder sich nicht um ihn kümmert, weil der Meister ihm nicht gibt, was er haben will. Aber wenn der Meister ihm gibt, was er haben will, dann fühlt sich die Seele des Schülers schlecht und wird den Meister verfluchen. Und der Supreme wird den Meister zur Verantwortung ziehen. Er wird sagen, dass der Meister bewusst den Fortschritt des betreffenden Schülers verzögert. Wenn ein Kind Gift essen will, dann gibt ihm die Mutter nicht einfach das Gift, nur um es zufrieden zu stellen.

Ist es manchmal besser, Wünsche und Begierden zu haben, als einfach nur faul zu sein?

Sri Chinmoy:
Es gibt auf Erden zwei Sorten von Menschen, die keinerlei Wünsche haben:
diejenigen mit befreiten Seelen und diejenigen mit dumpfen, trägen, leblosen Seelen. Befreite Seelen haben sich von Bindung, Begrenzungen und Unvollkommenheiten befreit. Sie haben sich von der Unwissenheit befreit und sind mit ihrer Seele in transzendentaler Erleuchtung eins geworden. Manche Menschen wiederum wollen nichts vom Leben. Sie schwelgen nur im Vergnügen der Trägheit und der Lethargie, aber sie haben kein inneres Streben nach irgendetwas. Daher werden sie niemals Erleuchtung erlangen.
Der große spirituelle Held Swami Vivekananda wurde einmal von einem jungen Mann gefragt, wie er denn Gott verwirklichen könne. Vivekananda antwortete: „Erzähle von jetzt an Lügen.“ Der junge Mann sagte: „Du willst, dass ich Lügen erzähle? Wie kann ich dadurch Gott verwirklichen? Das ist gegen alle spirituellen Grundsätze!“ Aber Vivekananda sagte: „Ich verstehe mehr davon als du. Ich kenne deinen Standard. Du willst dich nicht einen Zentimeter von der Stelle rühren; du bist nutzlos, du bist im normalen Leben so gut wie tot, ganz zu schweigen vom spirituellen Leben. Wenn du anfängst, Lügen zu erzählen, werden dich die Leute kneifen und schlagen, und dann wirst du deine eigene Persönlichkeit hervorbringen. Zuerst musst du deine eigene Individualität und Persönlichkeit entwickeln. Dann wird ein Tag kommen, wo du deine Individualität und Persönlichkeit der göttlichen Weisheit, dem unendlichen Licht und der unendlichen Glückseligkeit wirst hingeben müssen. Aber zuerst musst du deine Reise beginnen.“
Es gibt noch eine andere Geschichte von einem Mann, der zu Swami Vivekananda kam und ihn nach Gott-Verwirklichung fragte. Vivekananda sagte: „Geh Fußball spielen. Du wirst Gott eher verwirklichen können, wenn du Fußball spielst, als wenn du die Bhagavad Gita studierst.“ Um Gott zu verwirklichen, ist Stärke vonnöten. Diese Stärke braucht nicht die Stärke eines Ringers oder Boxers zu sein, aber soviel Stärke wie ein normales Alltagsleben erfordert, ist absolut notwendig.
Es gibt einige unausgeglichene Leute, die glauben, dass sie Gott verwirklichen werden, wenn sie wie ein Landstreicher umherziehen oder ihren Körper quälen und schwächen. Ihre physische Schwäche sehen sie als Vorboten der Gott-Verwirklichung. Der große Lord Buddha versuchte den Weg der Selbstkasteiung, aber er kam zu dem Schluss, dass der mittlere Weg ohne Extreme der beste ist. Wir müssen normal sein; wir müssen in unserem alltäglichen Leben gefestigt sein. Es ist nicht so, dass inneres Streben eine Sache ist und unser physischer Körper eine andere. Das innere Streben unseres Herzens und unser physischer Körper gehören zusammen; das physische Streben und das psychische Streben können und müssen Seite an Seite laufen.

Könntest du bitte etwas über die Rolle der Begierde auf dem Weg zur Gott-Verwirklichung sagen?

Sri Chinmoy:
Wir fühlen in unserer alltäglichen Erfahrung sehr oft, dass Begierde eine Sache ist und Gott etwas anderes. Wir sagen, dass Begierde im spirituellen Leben schlecht ist, denn wenn wir etwas begehren, fühlen wir, dass es das Objekt selbst ist, das wir begehren. Es ist wahr, dass wir nur durch inneres Streben Gott verwirklichen können, aber wir sollten wissen, dass Gott in unserer Begierde und unseren Wünschen ebenso weilt wie in unserem inneren Streben. Wenn wir erkennen, dass Begierde auch ihr Dasein in Gott hat, erhalten wir unsere erste Erleuchtung.
Unsere irdische Reise beginnt mit Begierde, und im gewöhnlichen Leben können wir ohne sie nicht leben. Aber wenn wir fühlen, dass wir für das spirituelle Leben nicht bereit sind, nur weil wir unzählige Begierden und Wünsche haben, dann möchte ich sagen, dass wir nie für das spirituelle Leben bereit sein werden. Wir müssen unser spirituelles Leben hier und jetzt beginnen, selbst wenn wir noch auf dem Pfad der Begierde wandeln.
Betrachten wir Begierde wie einen Gegenstand und versuchen wir, den Atem Gottes in ihr zu fühlen. Langsam und unfehlbar wird der Atem Gottes zum Vorschein kommen und unsere Begierde in inneres Streben verwandeln. Wenn wir dann diesen Prozess auch auf unser inneres Streben anwenden, werden wir fühlen können, dass unser inneres Streben und unser irdisches Dasein niemals voneinander getrennt werden können.

Ist es richtig, eine Motivation dafür zu haben, Verwirklichung zu erlangen, wie den Wunsch nach Befreiung? Ist dies eine richtige Motivation?

Sri Chinmoy:
Sicherlich ist es eine richtige Motivation. Es gibt zwei verschiedene Zugänge zur Gott-Verwirklichung. Ein Weg ist die vollständige Überantwortung an den Willen Gottes. Diese Selbsthingabe muss dynamisch sein. Ansonsten wirst du wie die Millionen lethargischer Menschen auf Erden sein, die im Vergnügen der Unwissenheit schwelgen und auf die Verwirklichung zu Gottes Stunde warten. Diese Menschen werden Millionen von Jahren brauchen, um Gott zu verwirklichen. Denn warum sollte Gott Seinen Part spielen, wenn sie nicht die Fähigkeit nutzen, die Er ihnen gegeben hat? In dynamischer Selbsthingabe spielen wir unsere Rolle und nutzen die Fähigkeit, die Gott uns gegeben hat; aber dann überlassen wir es Gott uns zu geben, was Er möchte und wann Er es möchte. In dynamischer Selbsthingabe bringen wir unseren vollen persönlichen Einsatz und beten dann um göttliche Gnade. Ein gewöhnlicher Mensch will sein Ziel mit allen Mitteln erreichen, auf Biegen und Brechen. Aber im spirituellen Leben wollen wir dies nicht. Wir üben uns in Geduld.
Der andere Weg besteht darin, eine bestimmte Vorstellung von dem zu haben, was wir erreichen wollen, wenn wir beten und meditieren. Nehmen wir einmal an, ich will gut sein. Das ist ein legitimes Ziel. Wenn ich gut werde, dann wird es einen Schurken weniger auf der Erde geben, und Gottes Schöpfung wird besser sein. Daher bete ich zu Gott, mir etwas zu geben, das Ihm helfen wird, Sein eigenes Licht auf Erden zu verbreiten. Um der Menschheit dienen zu können und Gott auf Seine eigene Weise zufrieden zu stellen, müssen wir gut werden. Aber nur wenn wir Gott verwirklichen, können wir wirklich eine Hilfe für Ihn sein. Was können wir der Menschheit schon geben, solange wir nicht verwirklicht sind, solange wir nicht von den Fesseln der Unwissenheit befreit sind? Wie können wir Gott oder der Menschheit helfen, solange wir nicht etwas Frieden, Licht und Glückseligkeit besitzen?
Der große spirituelle Meister Sri Ramakrishna pflegte zu beten: „O Göttliche Mutter, mache mich zum größten aller Yogis.“ Ein normaler Mensch würde sagen: „Was für ein Meister betet darum, der Größte zu sein?“ Aber für Sri Ramakrishnas war das kein Wettbewerb. Er wusste, dass er der Menschheit nur dann von wahrem Nutzen sein konnte, wenn er göttlich groß wurde. Daher ist nichts falsch daran, für Verwirklichung und Befreiung zu beten. Wenn du kein Motiv hast, wenn du keinerlei inneren Hunger nach Gott oder nach Frieden, Licht und Glückseligkeit hast, wird Gott sagen: „Schlafe, mein Kind, schlafe, so wie Millionen und Milliarden anderer Menschen auf Erden schlafen.“

Was geschieht, wenn unsere Wünsche und Begierden nicht erfüllt werden?

Sri Chinmoy:
Der Mensch hat zahllose Wünsche. Wenn seine Wünsche nicht erfüllt werden, verflucht er sich selbst und fühlt, dass er ein Fehlschlag ist, ein hoffnungsloser und hilfloser Versager. Er möchte sein Dasein auf Erden mit den Früchten seiner Wünsche beweisen. Er glaubt, dass er durch die Erfüllung seiner Wünsche seine Überlegenheit über andere zeigen kann. Aber ach! Es misslingt ihm, es misslang ihm und es wird ihm misslingen.

Wie kann ich mich von meinen physischen Wünschen und Begierden trennen?

Sri Chinmoy:
Da du das spirituelle Leben angenommen hast, solltest du dich zuallererst fragen, ob Wünsche und Begierden dich zufrieden stellen und erfüllen oder nicht. In deinem inneren Wesen wirst du fühlen, dass sie dich weder zufrieden stellen noch erfüllen. Bevor du tatsächlich etwas begehrst, hast du das Objekt oder die Frucht deiner Begierde im Sinn, und du denkst, wenn du dieses Objekt erlangst, wirst du glücklich sein. Unglücklicherweise wirst du aber letzten Endes nur Frustration erhalten. Wenn du mit deinem Verstand in deine physische oder niedere vitale Begierde eindringst, bist du gefangen. Du springst direkt in den Rachen eines verschlingenden Tigers. Wenn du dich auf die Begierde konzentrierst, kannst du innerlich fühlen, dass am Anfang kein Licht ist, am Ende kein Licht ist und dazwischen auch kein Licht ist. Von Anfang bis Ende herrscht nichts als Dunkelheit, und Dunkelheit bedeutet die Abwesenheit von göttlicher Erfüllung. Wenn du dieses Ergebnis fühlen kannst, bevor du tatsächlich begehrst, dann kannst du dein Leben mit Leichtigkeit von der Begierde abwenden.
Du musst fühlen, dass das, was du brauchst, inneres Streben ist und nicht Begierde. In dem Moment, wo jemand zu streben beginnt, erfährt er wahre Zufriedenheit. Diese wahre Zufriedenheit stellt sich ein, weil inneres Streben die Fähigkeit hat, sich bewusst und seelenvoll mit den entferntesten Winkeln der Erde zu identifizieren, mit dem tiefsten und innersten Wesen und mit dem höchsten Transzendentalen Selbst. Wenn du die wirkliche Notwendigkeit inneren Strebens fühlst, wirst du sehen, dass physische, vitale und mentale Begierden aufhören, an die Türe deines Herzens zu klopfen.
In jedem Moment musst du dich auf dein Ziel ausrichten. Wenn du dich auf die Sonne konzentrieren und auf sie meditieren willst, wenn sie früh am Morgen aufgeht, dann musst du nach Osten blicken und nicht in eine andere Richtung. Wenn du nach Westen schaust und nach Osten laufen willst, wirst du stolpern. Wenn du dir deines Zieles der Gott-Verwirklichung sicher sein willst, dann wirst du nicht zurück oder um dich herum schauen, sondern nur in Richtung des Lichts. Du kannst deine physischen Begierden nur überwinden, indem du auf das Licht zuläufst. Denke nicht an deine physischen Begierden, sondern denke nur an dein inneres Streben. Wenn du mit zielgerichteter Entschlossenheit vorwärts laufen kannst, werden Begrenzungen und Begierden allmählich aus deinem Leben verschwinden. Inneres Streben ist die einzige Antwort. Du sehnst dich nach äußeren Dingen; genauso kannst du dich auch nach inneren Dingen sehnen. Wenn du dich aufrichtig sehnen kannst, kannst du spirituell fliegen.
Wenn ich denke, sinke ich.
Wenn ich wähle, verliere ich.
Wenn ich mich sehne, fliege ich.

Bitte erzähle uns etwas über Begierde und Spiritualität.

Sri Chinmoy:
Begierde ist Versuchung. Wenn die Versuchung genährt wird, verhungert wahres Glücklichsein. Inneres Streben ist das Erwachen der Seele. Das Erwachen der Seele ist die Geburt überirdischer Wonne. Einzig und allein durch hohes, höheres und höchstes inneres Streben kann man von allen Versuchungen, den sichtbaren wie den unsichtbaren, den geborenen wie den noch ungeborenen, befreit werden. Versuchung ist eine universelle Krankheit. Für einen Menschen ohne inneres Streben ist Versuchung unweigerlich unwiderstehlich. Ein wahrer Sucher jedoch fühlt und weiß, dass er der Versuchung widerstehen kann, aber was er nicht kann, ist der Verwandlung zu widerstehen, der Umwandlung seiner physischen Natur, seines gesamten Bewusstseins. Natürlich will er seiner Verwandlung auch gar nicht widerstehen. Im Gegenteil, für diese Verwandlung lebt er auf Erden.

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