Avatar

Hier erläutert Sri Chinmoy den indischen Begriff des Avatars – einer vollkommen verwirklichten Seele – und ihrer Bedeutung für die Erde. Was ist der Unterschied zu einem Yogi oder einem großen Meister? Waren Napoleon oder Sri Ramakrishna Avatare?

Was war die Philosophie von Ramanuja?

Sri Chinmoy: Ramanuja sagt, dass wir mit Gott eins sein können, es jedoch immer einen kleinen Unterschied geben wird. Gott wird immer ein wenig über uns stehen, damit wir Ihn verehren können. Keiner von uns wird je Gott gleich sein. Obwohl wir vielleicht mit Gottes Bewusstsein in der Welt der Verwirklichung und der Manifestation eins werden, werden wir immer Verehrende bleiben. Der Diener hat bereits eine innere Beziehung mit seinem Meister hergestellt. Der Diener weiß, was der Meister will und hat freien Zutritt zum Meister. Doch der Diener ist trotzdem noch ein Diener und der Meister ist der Meister. Ramanujas Weltanschauung ist, dass der Verehrer immer tiefste Freude erhält, wenn Gott ein wenig höher bleibt als der Verehrer. Wer den Weg der Hingabe geht, möchte immer ein kleines Stück vom Höchsten entfernt bleiben, damit er es genießen kann. Doch auf dem Weg des Wissens und der Weisheit möchte der Sucher mit der höchsten Wahrheit eins werden. Er möchte die Wahrheit nicht nur kosten, er möchte auch völlig eins mit ihr werden. Ramanuja ging den Weg der Hingabe, Ramakrishna tat dasselbe. Sie wollten die höchste Glückseligkeit genießen und vollkommen erfüllt werden.

Kannst du uns etwas über Sri Aurobindo erzählen?

Sri Chinmoy: Wenn du etwas über Sri Aurobindo erfahren willst, würde ich dir raten, seine Bücher zu lesen, vor allem "Das Göttliche Leben". "Das Göttliche Leben" ist ein Buch über sein eigenes Leben, seine Verwirklichung und seine Manifestation. Es gibt auch viele Bücher, die seine Schüler über ihn geschrieben haben, doch die Bücher, die er selbst geschrieben hat, sind unendlich viel besser als alle Bücher seiner Schüler zusammen. Wenn wir "Das Göttliche Leben" lesen, werden wir die Botschaft, die einzigartige Botschaft erfahren, die Sri Aurobindo in das Erdbewusstsein brachte. "Das Göttliche Leben" ist seine höchste Verwirklichung und seine göttliche Manifestation. Dieses Buch sagt alles. Es gibt viele echte spirituelle Meister, die überhaupt nichts geschrieben haben. Es war ein großes Glück für die Welt, dass Sri Aurobindo sein unendliches inneres Weisheitslicht durch seine Schriften weitergegeben hat. Viele wollen vielleicht nicht alle seine Bücher lesen, doch ein Buch genügt. Wenn man "Das Göttliche Leben" liest, wird man fühlen, was er ist und was er anzubieten hat. Was er ist, ist jedoch unendlich viel mehr als alles, was in diesem Buch und in all seinen anderen Büchern steht. Doch alles, was die Welt durch seine Schriften empfangen kann, bietet er in diesem einen Buch an. Wenn ihr also mehr über Sri Aurobindo erfahren möchtet, würde ich euch raten, dieses unvergleichliche Buch zu lesen.

Kannst du uns etwas über die Seelen von Ramanuja, Shankara und Madhava sagen? Verwirklichten sie Gott?

Sri Chinmoy: Sie waren alle drei intellektuelle Riesen. Gleichzeitig besaßen sie ein großes inneres Streben. Manche Leute glauben, dass Shankara eine Inkarnation von Shiva gewesen sei. Shiva ist eine große spirituelle Wesenheit, einer der Götter unserer hinduistischen Dreiheit. Doch in Bezug auf seine Verwirklichung kann man Shankara nicht mit einem wahren spirituellen Meister oder Yogi auf dieselbe Ebene stellen. Viele spirituelle Größen sagen, Shankara sei keine gottverwirklichte Seele gewesen und Ramanuja und Madhava wären ihm weit unterlegen gewesen. Doch alle drei sprachen über die Vedanta- Philosphie und gründeten schließlich verschiedene Wege. Letztlich haben diese drei Wege nur ein Ziel. Wenn wir einen dieser Wege betreten, fühlen wir, dass wir am Ende dasselbe Ziel erreichen. Shankara lebte im achten Jahrhundert nach Christus. Heute wird Shankara in Indien als Heiliger und spirituelle Größe verehrt, doch das ist nicht ganz richtig. Verwirklichte Seelen gehören in eine andere Kategorie. Madhava und Ramanuja waren genau genommen noch weit von der Gott-Verwirklichung entfernt.

Was für eine Rolle spielt die Seele in der Philosophie Buddhas?

Sri Chinmoy: Buddha gebrauchte den Ausdruck "Seele" nicht, doch er sagte, es gäbe ein inneres Wesen, eine innere Existenz. Er sagte, dass wir in unserer inneren Existenz letztlich von der Unwissenheit befreit werden könnten. Wir stecken alle in der Unwissenheit, doch es gibt eine innere, subtile Existenz, die er aber nie "Seele" nannte. Er verwendete den Ausdruck „inneres Wesen“ oder "innere Existenz", die von Krankheit, Zerfall oder Tod nicht berührt werden kann.

Ich sehe, dass du einen gelben Dhoti trägst und gelb symbolisiert in gewisser Weise Buddhas Lehre. Er sagte doch, seine Seele werde bald zurückkommen und eine neue Inkarnation annehmen.

Sri Chinmoy: Nein, Gautama Buddha kümmerte sich nicht um seine Wiedergeburt. Auf Buddhas Weltanschauung ist der Kreis der Wiedergeburt geschlossen, sobald man ins Nirvana eintritt. Wenn man einmal ins Nirvana eingegangen ist, kommt man nicht mehr in diese Welt zurück. Buddha interessierte sich nicht für Wiedergeburt. Er sagte einfach, man hätte seine Rolle gespielt, sobald man ins Nirvana eingetreten ist. Andere spirituelle Meister jedoch wollen wieder in die Welt zurückkommen, um der Menschheit zu dienen.

Kannst du das Ergebnis der Arbeit spüren, die Vivekanada in Amerika verrichtet hat?

Sri Chinmoy: Die großen Seelen, die befreiten Seelen, die verwirklichten Seelen, die Retter der Erde kommen in diese Welt, um die Welt zu transformieren, doch es ist praktisch vergeblich. Sie kommen, können aber kaum etwas erreichen. Es war Vivekananda, der die indische Spiritualität in den Westen gebracht hat. Sie fasste hier zwar Fuß, hätte aber besser Fuss gefasst, wenn nicht so viele Hatha-Yoga-Lehrer in den Westen gekommen wären. Einerseits muss man sagen, dass die westlichen Menschen richtig gehandelt haben, indem sie mit Hatha-Yoga begannen, der für spirituelle Anfänger wie ein Kindergarten ist. Sie waren noch nicht bereit, mit wirklicher Spiritualität zu beginnen. Es gibt einen großen Unterschied zwischen Hatha-Yoga-Übungen und gewöhnlichen Körper-Übungen und es ist sehr vorteilhaft, Hatha-Yoga zu machen. Wenn die westlichen Menschen jedoch von Anfang an mit dem Yoga der Konzentration und der Meditation begonnen hätten, wie es die Inder getan haben, dann hätten sie viel schneller Fortschritt gemacht. In Indien wird in vielen Ashrams überhaupt kein Hatha-Yoga praktiziert. Man schenkt dem Hatha-Yoga dort keinerlei Aufmerksamkeit. Auf dieselbe Weise hätte man in Amerika mit wirklicher Meditation beginnen können. Doch nach Vivekananda kam eine große Anzahl von Swamis hierher und begann Hatha-Yoga zu lehren. Diese Swamis kümmerten sich weder um Meditation noch um das innere Leben und so assoziierte man im Westen Yoga einfach nur mit physischen Übungen. Die Vedanta-Bewegung von Swami Vivekananda wurde vom Hatha-Yoga verdrängt. Es gab jedoch auch Leute in Amerika, die nach tieferer Spiritualität suchten, was die Hatha-Yoga- Lehrer, die in Indien wahrscheinlich nie meditiert hatten, geschickt ausnutzten. Sie fügten ihren eigenen Lehren etwas Meditation hinzu, damit sie wenigstens einige Schüler behalten konnten. Was jedoch die wirkliche Meditation betrifft, so haben viele meiner Schüler länger und aufrichtiger meditiert als einige dieser indischen Swamis. Diese haben zwar dreißig, vierzig oder gar fünfzig Jahre lang in Indien gelebt, doch während dieser Zeit vielleicht nicht einmal einen Monat lang ernsthaft meditiert. Einige dieser Lehrer hatten überhaupt keinen spirituellen Meister, während andere nur für kurze Zeit zu einem spirituellen Meister gingen. Dann kamen sie in den Westen und prahlten mit dem Namen ihres Meisters. Sie sagten: "Mein Meister war XY." Doch einige dieser sogenannten Schüler hatten nicht einmal im Ashram des Meisters gelebt oder hielten sich nur eine kurze Zeit lang – einen Tag oder einen Monat – im Ashram auf. Diese Swamis waren zu Lebzeiten der Meister vielleicht deren schlechteste Schüler. Die Meister wussten manchmal nicht einmal, dass diese Swamis ihre Schüler gewesen waren. Doch später wurden diese sogenannten Schüler im Westen zu selbsternannten "auserwählten Instrumenten" ihres Meisters.

Du hast einmal erzählt, es hätte einen Mann gegeben, der im letzten Augenblick Gott nicht verwirklichte, weil sein Guru ihm nicht half, seine Zweifel zu besiegen. Hätte der Guru dieser Person helfen können, wenn er mächtig genug gewesen wäre?

Sri Chinmoy: Der Guru war mächtig genug. Er war zu dieser Zeit am Leben, doch leider hatte die betreffende Person einen Streit mit ihrem Guru. Der Guru war über sie verärgert und half ihr dehalb nicht. Doch er hätte es tun können. Hätte der betreffende Sucher sich nicht mit seinem Guru gestritten, dann hätte er Gott verwirklicht. Sri Ramakrishna gab Vivekananda alles. Doch nachdem der Meister den Körper verlassen hatte, wollte Vivekananda so viele Male zu Pahari Baba gehen, um noch einmal initiiert zu werden. Ramakrishna, der große Avatar, hatte ihn initiiert und ihm alles gegeben und dennoch wollte Vivekananda zu Pahari Baba gehen, um noch einmal initiiert zu werden. Auf diese Weise kann selbst ein großer Sucher wie Vivekananda dem Zweifel zum Opfer fallen. Nachdem Sri Ramakrishna gestorben war, ging Vivekananda fünfzehn oder sechzehn Mal zu Pahari Baba und überlegte sich, ob er von ihm initiiert werden sollte. Schließlich erschien Ramakrishna mit einem besorgten Gesicht vor ihm und sagte: "Geh nicht, geh nicht!" Die Schüler Vivekanandas sagen, er habe ein großes Herz gehabt und wollte für die Menschheit arbeiten. Dazu hätte er aber eine bessere Gesundheit gebraucht und wollte deshalb zu einem großen Okkultisten wie Pahari Baba gehen. Doch wirkliche Sucher würden einfach sagen, dass Ramakrishna seine Krankheit geheilt hätte, wenn es sein Wille gewesen wäre, dass Vivekananda auf der Erde bleibt, um für das Erdbewusstsein zu arbeiten. Für einen spirituellen Meister vom Format Sri Ramakrishnas wäre es ein Leichtes gewesen, eine solche Krankheit zu heilen, doch Vivekanandas Zeit war gekommen; er hatte seine Rolle gespielt. Krishna war ein großer Avatar, dennoch traf ihn der Pfeil eines Jägers und tötete ihn. Doch wieviele Waffen gebrauchten die Kauravas in der Schlacht von Kurukshetra bei dem Versuch Krishna zu töten! Er streckte jeden mit seiner Sudarshana, seinem goldenen Diskus nieder. Er hatte die Macht, dem Tod zu entgehen, wenn er wollte. Doch Krishna wusste, dass er nur ein Spiel spielte. Als seine Rolle vorbei war, erlaubte er dem Pfeil eines Jägers, ihn zu töten. Auch Vivekananda war ein spiritueller Held. Seine Rolle war vorbei, doch sein Vitales wollte auf der Erde bleiben. Aus diesem Grund ging er, noch während Sarada Devi (die Gefährtin Sri Ramakrishnas; Anm. des Autors) am Leben war, zu Pahari Baba. Selbst Vivekananda litt unter großen Zweifeln. Sogar im letzten Augenblick, als Sri Ramakrishna schon den Körper verließ, zweifelte Vivekananda an ihm, worauf Ramakrishna sprach: "Derjenige, der Rama war, derjenige, der Krishna war, ist nun in einer Form Ramakrishna." In diesem Augenblick und bereits viele Male zuvor hatte Ramakrishna Vivekananda hohe Erfahrungen gegeben. Ramakrishna gab ihm alles. Als Vivekanandas Hingabe zum Vorschein kam, sagte er, dass es für Ramakrishna ein Leichtes wäre, aus einem Sandkorn Tausende von Vivekanandas zu machen. Hätte er diese Art von Glauben beibehalten, wäre er nie zu Pahari Baba gegangen, der Sri Ramakrishna unendlich weit unterlegen war. Doch so kann Zweifel wirken. Zweifel kann selbst einen Helden wie Vivekanada umhüllen. Zweifel hat die Macht, einen Löwen zu einer Hauskatze zu machen.

Als Katholik möchte ich gerne wissen, wie du beweisen kannst, dass der Tod nicht das Ende des Lebens ist.

Sri Chinmoy: Du kannst an der Auferstehung von Jesus sehen, dass der Tod nicht das Ende ist. Auch in Indien haben viele spirituelle Meister ihren Hinterbliebenen gezeigt, dass der Tod nicht das Ende ist. Sie sind ihnen in einem lebendigen, subtilen Körper erschienen. Ich will hier nur ein Beispiel erzählen. In Indien gab es einen großen spirituellen Meister, Sri Ramakrishna. Als er seinen Körper verließ, wurde seine Frau zur Witwe. Sobald der Ehemann stirbt, muss in Indien die Frau ihre Armreife und ihren gesamten Schmuck ablegen. Während Sri Ramakrishnas Frau dies tat, erschien ihr Mann leibhaftig vor ihr und sagte: "Was tust du da? Du solltest diesen Schmuck nicht abnehmen. Im Gegenteil, von jetzt an solltest du alle goldenen Armreife und den schönsten Schmuck tragen, denn jetzt bin ich unsterblich geworden. Deshalb solltest du etwas Schöneres, Bedeutungsvolleres und Fruchtbareres tragen." Es gibt sehr viele derartige Vorfälle, nur sind sie nicht alle aufgezeichnet worden.

Hätte denn nicht wenigstens die göttliche Gnade diese beiden Seelen miteinander in Verbindung bringen können?

Sri Chinmoy: Göttliche Gnade kann alles tun. Doch gleichzeitig ist auch die Unwissenheit sehr stark. Göttliche Gnade ist allmächtig, doch wenn wir bewusst die Unwissenheit lieben, dann zwingt uns die Gnade nicht. Rauchen ist etwas sehr Schlechtes. Nehmen wir an, jemand möchte ganz bewusst einige Tage lang rauchen. Er nimmt sich vor, das Rauchen zu einem bestimmten Termin wieder aufzugeben. Doch er weiß nicht, was während dieser Zeit geschehen kann. Dieser Zeitpunkt kommt vielleicht morgen oder erst zwanzig Jahre später. Während dieser zwanzig Jahre können alle seine göttlichen Möglichkeiten verloren gehen. In Indien gibt es so viele Leute, die meinen, dass Spiritualität im Augenblick nichts für sie sei. Sie denken: "Zuerst wollen wir die Welt genießen. Nachdem wir ein langes Leben gelebt haben, werden wir mit dem Meditieren beginnen." Doch vielleicht sterben sie lange bevor sie bereit sind, mit der Meditation zu beginnen. Auf diese Weise fängt uns die Unwissenheit ein. Dann sagt die göttliche Gnade nur: "Wenn ihm die Unwissenheit so viel bedeutet, soll er sie genießen."

Warum brachte Ramakrishna diese außerordentlichen Seelen, die er herabholte, nicht in Familien, wo er sie im Auge behalten konnte?

Sri Chinmoy: Ramakrishna war voller Vertrauen, dass er diese Seelen finden würde. Ramakrishna war so strikt, wenn er einen Schüler annahm. Zuerst betrachtete er den Schüler auf okkulte Weise, dann las er die Hand und schaute auf die Stirn und in die Augen des Schülers. Er nahm Schüler erst an, nachdem er sie auf vielfältige Weise geprüft hatte. Es genügte ihm nicht, nur deren Seelen zu sehen. Ich schelte meine Schüler, wenn sie sich an der Unwissenheit erfreuen, doch ich beschimpfe sie nicht öffentlich. Ramakrishna beschimpfte die Leute in der Gegenwart aller.

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