Indien

Indien ist vielen ein Rätsel. Warum ist Indien trotz seiner Spiritualität noch immer in vieler Hinsicht ein so rückständiges Land? Warum werden in Indien so viele Gottheiten und Götter verehrt? Stimmt es, dass der Begriff der Maya – der Welt als Illusion – oft fehl interpretiert wurde? Sri Chinmoy gibt erhellende Antworten.

Kommt Kali je zu dir, um dir zu helfen?

Sri Chinmoy: Sicherlich hilft sie mir! Wie könnte sie meine liebste Mutter sein, wenn sie mir nicht helfen würde?

In Indien praktizieren die Frauen vollkommene Selbsthingabe ihren Ehemännern gegenüber. Warum ist ihnen ihre eigene Individualität nicht wichtig?

Sri Chinmoy:
Ich hoffe, dass du die Bedeutung von Selbsthingabe kennst. In wahrer Selbsthingabe verlieren wir unsere Individualität nicht. Im Gegenteil, wir vergrößern sie. Wenn wir uns zum Beispiel völlig an Gott hingeben, dann werden wir in unserer Verehrung für Ihn eins mit Gott. Seine Kraft wird unserer eigenen Kraft hinzugefügt. Selbsthingabe ist etwas vollkommen Freiwilliges. Sich jemandem, der stärker ist als du, aus Angst zu unterwerfen, ist keine Selbsthingabe. Wahre Selbsthingabe ist eine große Kraft, die sich selbst erfüllt, wenn sie sich mit dem Gegenstand ihrer Verehrung vereint.

Wenn ein Inder, der hier in den USA lebt, ein amerikanisches Mädchen heiratet, werden seine Eltern sie als Paar akzeptieren, wenn sie nach Indien gehen?

Sri Chinmoy:
Das hängt ganz von den Eltern ab. Wenn sie orthodox oder konservativ sind, werden sie sie wahrscheinlich nicht akzeptieren. Aber wenn die Eltern in ihrem Denken liberal und tolerant sind und hohe Ideale hegen, wenn sie die Verbindung zwischen Ost und West schätzen, dann werden sie ihren Sohn und ihre Schwiegertochter gerne annehmen. Vom spirituellen Standpunkt aus, in Gottes Licht betrachtet, ist es nicht die Hautfarbe, nicht die Nationalität, sondern die wahre Erfüllung zweier Seelen in einer Verbindung, die den höchsten Stellenwert hat.

Einige spirituelle Größen in Indien behaupten, dass die Welt eine Illusion ist. Aber verzerren diese Menschen im Grunde nicht die reine Lehre Shankaras in Bezug auf Maya (Illusion)? Shankara leugnete niemals die Existenz dieser phänomenalen Welt.

Sri Chinmoy:
Ja, du hast recht. Aber die allgemeine Vorstellung von Maya wurde im Osten falsch interpretiert. Selbst heute noch werden neunundneunzig Prozent der Leute sagen, dass Shankara die Lehre vertrat, dass die Welt eine Illusion ist.
Wenn ich es recht verstehe, wollte Shankara folgendes sagen: „Die Welt ist keine Illusion, aber wir dürfen den vergänglichen Dingen keine Bedeutung beimessen. Es gibt etwas Ewiges, Dauerhaftes, Bleibendes, und wir müssen versuchen, im Ewigen und nicht im Vergänglichen zu leben.“
Heutzutage, oder sagen wir seit geraumer Zeit, seit etwa achtzig Jahren, sind einige der modernen indischen Denker zu dem Schluss gekommen, nachdem sie Shankaras Philosophie genauer beleuchtet haben, dass er nicht wirklich meinte, die Welt sei eine gigantische Illusion.
„Nicht dies, nicht dies“ riefen die Upanishaden aus, und Shankara antwortete darauf. Aber was ist dieses „dies“? Es ist etwas, das endlich ist, etwas, das uns immerzu bindet. Deshalb dachten die Menschen, dass vielleicht anderswo eine bessere Welt zu finden wäre, wenn wir diese Welt verlassen würden. Es ist so, als ob man an einem Ufer steht und denkt, dass das andere Ufer sicherer und voller Freude und Glückseligkeit ist. Aber das ist nicht wahr.
Jeder Mensch hat seine eigene Weise, die Wahrheit zu verstehen. Es steht dir völlig frei, sie auf deine eigene Weise zu verstehen. Wie viele Menschen können schon in die tiefere Bedeutung der Wahrheit eindringen? Die einen denken, die Welt sei eine Illusion, während die anderen fühlen, dass sie keine Illusion ist. Es ist bedauerlich, dass wir die Welt nicht in ihrer Ganzheit sehen können. Wir betrachten die Welt mit unserem endlichen Bewusstsein, mit unserem begrenzten Verständnis. Wenn wir dies tun, sehen wir, dass die Welt nichts als ein Gegenstand der Unwissenheit ist. Und wir fühlen, dass wir eine andere Welt betreten müssen, eine Welt der Glückseligkeit und Vollkommenheit.
Um zu deiner Frage zurück zu kommen: Shankaras sehr kurze irdische Existenz war erfüllt von dynamischer Energie. Er durchquerte ganz Indien zu Fuß, um seine Philosophie zu verkünden; er errichtete Tempel an Schlüsselstellen des Landes. Was er der ganzen Welt anbot, war in Wirklichkeit dynamische Wahrheit und nicht die so genannte Illusion, welche die Welt so stark mit seiner Lehre in Verbindung bringt.

Ist es nicht so, dass nationale Grenzen, wirtschaftliche Ungleichheit und religiöse Dogmen die Menschen teilen und dadurch eine Umgebung erzeugen, die antispirituell ist und Frieden für den Einzelnen wie für ein Land zu einem unerreichbaren Stern macht?

Sri Chinmoy:
Ich bin tatsächlich überzeugt davon, dass diese nationalen Grenzen usw. das Wachstum unseres sich entwickelnden menschlichen Bewusstseins wirklich beeinträchtigen. Doch die Läuterung von Verstand und Geist des einzelnen Menschen muss dem Erwachen unserer gesellschaftlichen Einrichtungen wie Kirchen und Regierungen vorausgehen. Wie wir wissen, ist die Politik von Institutionen und Nationen in der Regel eine Verkörperung des allgemeinen Bewusstseins. Diese Politik kann von erleuchteten Individuen ganz erheblich beeinflusst werden. Speziell Mutter Indien hat es nie an solchen erleuchteten Seelen gemangelt, noch mangelt es ihr heute daran.
Es ist nur eine Frage der Zeit, und die Zeit selbst wird eine Öffnung hervorbringen, damit das spirituelle Bewusstsein den Einzelnen und seine Gesellschaft durchdringen kann. Von unserer Seite ist jedoch eine bewusste spirituelle Bemühung erforderlich, damit die höheren Kräfte von oben herab kommen und die Tiefen unseres suchenden Herzens berühren können. Die Kluft, die wir momentan zwischen unserem inneren Streben und seiner Erfüllung in der Gesellschaft sehen, wird dann nicht mehr bestehen.

Könntest du mir bitte sagen, warum die Leute in Indien so viele Götter und Göttinnen verehren und nicht einen?

Sri Chinmoy:
Könntest du mir bitte sagen, warum du den Vater, den Sohn, den Heiligen Geist und so viele Engel verehrst? Nun, um ernsthaft zu sein, wir haben in Indien Millionen von Göttern und Göttinnen. Und wir sind stolz darauf. Wir fühlen sogar, dass jeder Einzelne seinen eigenen Gott haben sollte; jeder Mensch muss seinen eigenen Weg der Gott-Verwirklichung haben.
Tatsächlich sind diese Götter und Göttinnen lediglich verschiedene Manifestationen des Einen Absoluten. Jede Gottheit verkörpert einen besonderen Aspekt oder eine bestimmte Eigenschaft des Supreme. Unsere Unfähigkeit, die alles umfassende universelle Harmonie in all diesen verschiedenen Aspekten zu erkennen, ist der Grund für unsere Missverständnisse und Streitereien. In dem Moment, wo wir den universellen Geist, den Unpersönlichen Einen verwirklichen, können wir in vollkommener Harmonie mit all den verschiedenen Glaubensrichtungen leben. Dann können wir die Wahrheit hinter den Vorstellungen dieser Götter und Göttinnen sehen.

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