Guru, Meister, Lehrer

„Guru“ bedeutet Lehrer, oder „der, der Licht bringt“. Wie wichtig ist es, einen lebenden spirituellen Meister oder Lehrer zu finden? Sri Chinmoy erklärt, wie ein echter Meister die innere Entwicklung eines Suchers beschleunigen kann, wie man seinen Lehrer findet und woran man einen verwirklichten Meister erkennt. Warum Meister leiden, wie sie der Menschheit dienen und wie ein Meister weiter wirkt, nachdem er die Erde verlassen hat.

Warum gibt ein Meister einem Schüler heute einen bestimmten Rat und morgen einen anderen?

Sri Chinmoy:
Manchmal ändert ein spiritueller Meister seinen Rat. Dann erhält der Schüler Gelegenheit, den Meister anzuzweifeln. Er sagt sich: „Wie kommt es, dass er mir gestern einen Rat gab und heute einen anderen? Das bedeutet, dass er sich nicht sicher ist, wenn er etwas sagt.“
Leider macht der Sucher hier einen Fehler. Der Meister hat mit dem Sucher und mit dem Supreme zu tun. Der Supreme ist allwissend, Er weiß alles. Er ist allmächtig, Er kann alles tun. Er ist der Ewige Spieler, der das Kosmische Spiel spielt, und Er hat jedes Recht, den Ablauf Seines Spiels zu ändern. Der Meister ist im Einklang mit diesem Kosmischen Spiel des Supreme.
Gestern sagte der Supreme zum Meister: „Sage deinem Schüler, dass er dieses tun soll.“ Heute sagt der Supreme: „Nein, ich möchte den Verlauf des Spiels ändern. Sage ihm, dass er jenes tun soll.“ Was wird der Meister nun machen? Wird er seiner früheren Ansicht treu bleiben, nur weil der Schüler sonst sagen wird: „Wie kommt es, dass du ständig deine Meinung änderst?“ Oder wird er seinem Inneren Führer, dem Supreme treu sein? Wenn der Meister aufrichtig ist, wird er sofort zum Schüler sagen: „Der Supreme hat es sich anders überlegt. Tue bitte daher nicht dies, sondern etwas anderes:“
Der spirituelle Meister wird dem Supreme immer treu bleiben und Ihm vollkommen ergeben sein, egal was der Schüler über ihn denkt. Der Schüler mag glauben, dass der spirituelle Meister einen Fehler macht, aber der Meister weiß, dass er das Richtige tut.

Es gab eine Reihe von spirituellen Meistern, die rauchten und tranken. Wie konnten sie Gott verwirklichen?

Sri Chinmoy:
Aufgrund ihres inneren Strebens. Spirituelle Meister pflegten zu trinken, zu tanzen, Fleisch zu essen und alles Mögliche zu tun, ohne ihre Höhe zu verlieren. Für sie war die Welt wie ein Garten und sie waren göttliche Kinder, die darin spielten, ohne von dem, was sie sagten oder taten, beeinflusst zu werden.
Aber du solltest wissen, dass es einen kleinen Unterschied gibt zwischen ihrem inneren Streben und deinem. Der Unterschied ist wie der zwischen dir und einem Baum. Ein Baum verletzt niemanden; er ist rein und unschuldig. Aber du wirst Gott lange vor dem Baum verwirklichen. Wenn es sich um den inneren Ruf, um inneres Streben handelt, kann sich ein gewöhnlicher Mensch nicht mit den großen spirituellen Meistern vergleichen. Wenn sie einmal zu meditieren begannen, konnten sie stundenlang sitzen und sich in ihrer Meditation verlieren.
Viele indische spirituelle Meister nehmen Arsen zu sich, und manchmal glauben die Leute, wenn sie eine große Dosis nehmen, dass sie Selbstmord begehen wollen. Aber es schadet ihnen nicht. Ähnlich gibt es Okkultisten, die neun oder zehn Stunden am Tag meditieren und dann für den Rest des Tages ein sehr schlechtes Leben führen. Aber die Intensität ihres inneren Strebens bringt ihnen dennoch Verwirklichung.

Wie kommt es, dass verwirklichte Gurus manchmal die Schriften und überlieferte Vorschriften mit dem, was sie sagen und tun, in Frage zu stellen scheinen?

Sri Chinmoy:
Es stimmt, dass verwirklichte Gurus, große Gurus ihre eigene Wahrheit haben. Aber sie stellen nichts in Frage. Was sie tun ist, eine neue Orientierung zu geben. Nehmen wir an, dass eine große spirituelle Persönlichkeit etwas gesagt hat. Zu der Zeit, wo sie lebte, war diese Wahrheit notwendig. Aber die Welt entwickelt sich weiter, und jetzt muss eine höhere Wahrheit manifestiert werden. Wenn wir also etwas anderes sagen, stellen wir die großen Meister der Vergangenheit nicht in Frage. Wir bringen lediglich eine höhere Wahrheit und ein höheres Wissen in das Erdbewusstsein herab, welches nun bereit ist, diese zu empfangen. Wir erweitern und erleuchten die Wahrheit.
Nur wenn wir in die Wahrheit eintreten und sie verwandeln, werden wir eine höhere und weitere Wahrheit erlangen. Wenn wir glauben, dass alles, was über Spiritualität zu sagen ist, bereits von unseren Vorvätern gesagt wurde, irren wir uns. Die Wahrheit ist niemals vollständig, weil wir in einem sich ewig transzendierenden Universum leben. Was die Lehrer der Vergangenheit gesagt haben, ist ewig wahr; was wir sagen, ist ebenfalls ewig wahr. Aber jede Wahrheit hat ihre eigene Stufe, und wir entwickeln uns ständig weiter und schreiten unaufhörlich voran.
Dein Vater hat sich vielleicht auf der physischen Ebene etwas vorgestellt oder ausgedacht, was zu dieser Zeit Aufsehen erregend war. Jetzt bist du erwachsen und du denkst an etwas Höheres oder Tieferes, weil sich die Wissenschaft zu einer neuen Stufe weiter entwickelt hat. Das bedeutet nicht, dass du die Errungenschaften deines Vaters in Frage stellst. Nein, du gehst lediglich über ihn, über seine Fähigkeiten, über sein Verständnis hinaus.
Im spirituellen Leben lehnen wir nichts ab; wir gehen nur höher und höher, um die allerhöchste Höhe zu erreichen. Aber immer noch haben wir die Höchste Wahrheit, die allerhöchste Verwirklichung oder das, was wir absolute Manifestation nennen, nicht erfahren. Spirituelle Manifestation ist noch nicht vollendet und vielleicht wird sie nie vollendet sein.

Kann ein spiritueller Meister, der versucht die höheren Wahrheiten zu enthüllen, in gewisser Weise mit einem Dichter verglichen werden, der versucht, künstlerische Wahrheiten auszudrücken und zu enthüllen?

Sri Chinmoy:
Ein gewöhnlicher Dichter erhascht vielleicht einen flüchtigen Blick auf die Wahrheit, aber die spirituellen Meister erhalten den ganzen Ozean der Wahrheit. Spirituelle Meister erblicken eine viel höhere Wahrheit als ein gewöhnlicher Dichter. Hinzu kommt, dass für einen gewöhnlichen Dichter die Dichtung alles bedeutet. Aber für die fortgeschrittenen Seelen oder spirituellen Meister bedeutet Dichtung nicht alles. Gott bedeutet ihnen alles.
Der Dichter, der höhere Botschaften herab bringt, fühlt, dass diese alles sind, was er zu geben hat. Spirituelle Meister hingegen fühlen, dass ihre spirituellen Schriften rein gar nichts verkörpern im Vergleich zu dem, was sie wissen und was sie wirklich sind. Sie sagen: „Im Vergleich zu meiner Verwirklichung ist meine Manifestation gar nichts. Das Licht, das ich angeboten habe, ist nichts, wenn man es mit dem Licht vergleicht, das noch nicht manifestiert ist. Wenn ich für meine Verwirklichung hundert von hundert Punkten erhalte, dann erhalte ich für meine Manifestation nicht mehr als einen von hundert Punkten. Wenn ich sterbe, weiß ich, wie viel innerer Reichtum niemals eine Chance haben wird, durch mich manifestiert zu werden.“ Alle spirituellen Meister sind auf diese Weise in ihrem Ausdruck, in ihrer Enthüllung und in ihrer Manifestation enttäuscht worden.

Warum gehen manche Meister in die Welt hinaus, um ihre Anhängerschaft zu vergrößern?

Sri Chinmoy:
Ein wahrer Meister ist nicht an der Zahl seiner Schüler interessiert, da der Meister und der Sucher durch Gottes Gnade einander finden werden. Sri Ramakrishna jedoch stieg auf das Dach seines Hauses hinauf und rief nach spirituellen Schülern. Er fragte immer wieder Mutter Kali, warum die Schüler, die für ihn bestimmt waren, nicht kamen. Warum konnte er nicht auf die Stunde Gottes warten? Gottes Stunde hatte für Sri Ramakrishna bereits geschlagen, aber die Unwissenheit der Welt versperrte den Weg. Gott bat ihn, etwas zu tun, und gab ihm auch die Fähigkeit dazu, aber die Unwissenheit stand direkt vor ihm und verzögerte, verzögerte, verzögerte seine Manifestation. Sri Ramakrishna rief nicht nach Schülern, die kommen und seine Füße berühren würden. Er rief nach Schülern, die seine richtigen Arme und Hände sein würden, die mit ihm in das universelle Bewusstsein fliegen würden, die für ihn arbeiten und auf diese Weise für Gott arbeiten würden.
Niemand ist unersetzlich, das ist wahr. Doch gleichzeitig ist jeder Einzelne unersetzlich, so lange er in seinem inneren Streben und in seinem Dienst für die Mission des Supreme absolut aufrichtig ist. Aus Stolz und Eitelkeit heraus darf niemand fühlen, dass er notwendig ist; aber jeder ist notwendig, wenn er ein aufrichtiges, ergebenes, auserwähltes Instrument Gottes ist. Der Meister braucht Schüler, weil sie wie seine Hände, wie seine Gliedmaßen, wie die Erweiterung seines eigenen Bewusstseins sind. Und wenn er den Befehl vom Höchsten bekommt, dann muss er versuchen, diejenigen zu finden, die Teil seines Bewusstseins sein sollen, um ihm zu helfen, den Befehl auszuführen.
Früher pflegten spirituelle Meister zu sagen: „Wenn du etwas hast, werden andere zu dir kommen. Der Teich geht nicht zum Durstigen; der Durstige geht zum Teich.“ Das trifft vollkommen zu, wenn ein Erwachsener durstig ist. Aber wenn du weißt, dass die durstige Person noch ein Kind ist, ist es etwas völlig anderes. Wenn ein Baby in seinem Zimmer schreit, wird die Mutter gelaufen kommen, um es zu füttern. Die Mutter sagt nicht zum Kind: „Du musst zu mir kommen, schließlich willst du etwas von mir.“ Nein, die Mutter lässt alles stehen und liegen und läuft zu ihrem Baby.
Ebenso haben in der spirituellen Welt manche Meister das Bedürfnis, hinaus in die Welt zu gehen, da die äußere Welt in ihrem Bewusstsein noch ein Baby ist. Diese Meister fühlen, dass es viele Kinder gibt, die sich nach spirituellem Licht, nach spiritueller Weisheit und spiritueller Vollkommenheit sehnen, die aber nicht wissen, wo oder wie sie es finden können. Daher ziehen die Meister von Ort zu Ort und bieten ihr Licht an in der Absicht, der Göttlichkeit in der Menschheit zu dienen. Ich bin einer von ihnen. Ich ziehe umher, weil ich fühle, dass es aufrichtige Kinder gibt, die das Licht brauchen, welches mir der Supreme gegeben hat, um es der Menschheit anzubieten. Das ist der Grund, warum ich in so viele Länder auf der ganzen Welt reise, weil ich fühle, dass die äußere Welt mein Kind ist.
Wenn die Welt ruft und wir die Fähigkeit dazu haben, müssen wir sie nähren. Wenn ich die Fähigkeit habe, dir etwas zu geben, und zugleich auch fähig bin, zu dir zu gehen, warum soll ich dich dann zu mir rufen? Wenn ich die Fähigkeit habe, sowohl vor dich hinzutreten als auch dir das Licht zu geben, welches du möchtest, dann muss ich dies tun. Wenn ich die Fähigkeit dazu nicht habe, muss ich still sein.
Die äußere Welt ist sehr begrenzt im Vergleich zur inneren Welt. Die Länge und Breite der äußeren Welt beträgt nicht mehr als ein paar Tausend Meilen, aber die innere Welt ist grenzenlos. Ein spiritueller Mensch fühlt aufgrund seiner eigenen Verwirklichung, dass ihm alle Welten gehören, weil sein Meister, der Supreme, alle Welten durchdringt. Wenn nun der Supreme alles durchdringt, wieso sollte es dann unter der Würde Seines Sohnes sein, von einem Ort zum andern zu ziehen?
Es gibt verschiedene Wege, die Welt zu nähren. Spirituelle Bücher zu schreiben ist ein Weg; Vorträge zu halten ist ein anderer. Wenn jemand viele Fähigkeiten besitzt, warum sollte er sie nicht alle nutzen? Manche spirituelle Meister haben diese äußeren Fähigkeiten nicht. Sri Ramakrishna zum Beispiel konnte nicht schreiben. Aber das hielt ihn nicht davon ab, das Höchste zu verwirklichen. Gleichzeitig werden diejenigen, die fähig sind zu schreiben und Vorträge zu halten, dadurch ihre Gottverwirklichung nicht verlieren.
Gott spielt auf verschiedene Arten. Wenn Gott einem spirituellen Meister die Fähigkeit gibt, zu schreiben, Vorträge zu halten, Menschen zu begegnen und von einem Ort zum anderen zu reisen, dann ist das Gottes Angelegenheit. Der Meister führt nur Gottes Willen aus. Und wenn Gott einem Meister nicht die Fähigkeit zu schreiben oder zu sprechen gibt, dann können wir diesen spirituellen Meister nicht dafür tadeln oder sagen, dass er unterlegen sei. Wir müssen wissen, was Gott von uns will. Wenn Gott will, dass ich schreibe, wird Er mir die Fähigkeit dazu geben. Wenn Gott nicht will, dass du schreibst, wird Er dir diese Fähigkeit nicht geben. In beiden Fällen dürfen wir nichts daran auszusetzen haben.

Warum nehmen von den Meistern, die nach der Verwirklichung beschließen, in die Welt hinauszugehen und der Menschheit zu helfen, manche eine große Zahl von Schülern an und andere nicht?

Sri Chinmoy:
Manchmal trifft der Supreme die Entscheidung, aber Er zwingt Seinen Willen nicht auf. Es gibt einige Meister, die der Supreme fragt, nachdem sie ihre große Verwirklichung erlangt haben: „Was ist dein Wunsch? Was willst du tun?“ Wenn der Meister antwortet: „Ich möchte für so viele Menschen arbeiten, ich möchte die und die Arbeit tun“, dann sagt der Supreme: „In Ordnung, es sei dir gewährt, du hast Meinen Segen.“ Dann gibt es einige, die sich nicht festlegen, wie weit sie gehen wollen. Sie sagen: „Ich werde bis zum Schluss mein Bestes geben. Ich brauche Deinen Segen. Ich brauche Deine Gnade. Ich will versuchen, so viel wie möglich zu manifestieren. Ich setze mir keine Grenzen.“
Einige Meister begrenzen die Zahl der Schüler, die sie haben möchten. Andere wiederum setzen ihrem Streben zu dienen keine Grenzen. Sie bleiben ein offener Kanal und sagen dem Supreme, dass sie ihr Bestes tun wollen, um Ihn bis an ihr Lebensende zu erfüllen und zu manifestieren. Und damit nicht genug, sie versprechen auch, Seine Arbeit durch ihre Schüler fortsetzen zu wollen, nachdem sie den Körper verlassen haben. Es hängt also vom einzelnen Meister ab und davon, wie viel spirituelle Verantwortung er übernehmen will.
Die Zahl der Schüler, die ein Meister haben kann, hängt davon ab, welche Art von Schülern er annimmt. Wenn er sehr wählerisch ist und nur jene Seelen will, die völlig dem Spirituellen gewidmet sind, die intensives inneres Streben haben und absolut für das spirituelle Leben bestimmt sind, dann wird er nur eine Handvoll annehmen. Sri Ramakrishna zum Beispiel wollte nur eine begrenzte Anzahl von Schülern. Er nahm es mit seinen Schülern sehr genau. Manche Meister jedoch sagen: „Jeder, der etwas über das spirituelle Leben lernen möchte, ist in meiner Gemeinschaft willkommen.“ Andere Meister sagen sogar: „Soll jeder entsprechend seinem eigenen Standard voranschreiten.“ Und so nehmen sie Tausende von Schülern an.
Echte spirituelle Meister werden nur die Schüler annehmen, die für sie bestimmt sind. Wenn ich weiß, dass jemand bei einem anderen Meister schnelleren Fortschritt machen wird, dann werde ich den Betreffenden innerhalb weniger Monate okkult und spirituell wissen lassen, dass er nicht für mich bestimmt ist. Was zählt, ist nicht die Anzahl der Schüler, die ein Meister hat, sondern ob er sie bis ans Ziel bringt. Wenn ich verwirklicht bin und ein anderer ist auch verwirklicht, dann sind wir wie zwei Brüder mit einem gemeinsamen Vater. Unser Ziel ist es, unsere jüngeren Brüder und Schwestern, die Menschheit, zum Vater zu bringen. Das Spiel wird erst vollendet sein, wenn alle Menschen zu Gott gefunden haben. Wenn zwei Meister wahre Brüder mit demselben Vater sind, wie kann dann ein Meister unglücklich oder unzufrieden sein, wenn jemand durch den anderen Meister zum Supreme gelangt? Es geht nicht darum, wer etwas tut, sondern ob es geschieht. Wer es getan hat, ist nur eine Frage des Namens und der Form, die im Laufe der Geschichte verblassen werden. Was zählt ist, dass die Evolution auf der Erde stattgefunden hat.

Warum ist es für einen spirituellen Meister so schwierig, von der Welt angenommen zu werden?

Sri Chinmoy: Die Welt ist nicht bereit für spirituelle Meister. Sie kommen auf ihrem unendlichen Mitleid heraus auf die Erde. Wenn sie gehen, versprechen manche Meister, dass sie wieder zurückkommen werden, solange es noch Menschen auf Erden gibt, die unverwirklicht sind. Sie sind aufrichtig, wenn sie das sagen, aber sobald sie in die höheren Welten aufsteigen und die Undankbarkeit der Erde sehen, überlegen sie es sich anders. Sie fragen sich, warum sie ihre wertvolle Zeit verschwenden sollen, wenn die Menschheit doch schläft, und warum sie zurückkommen sollen, nur um von einer undankbaren Menschheit getreten zu werden.
Die Menschheit braucht spirituelle Meister für ihr Erwachen und für ihre Erleuchtung, aber im äußeren Leben fühlen die Menschen keine Dringlichkeit. Die Welt ist nicht bereit, und vielleicht wird sie als Ganzes auch niemals bereit sein. Wenn die Meister kommen, finden sie unwillige, unstrebsame Menschen vor. Um Gott zu verwirklichen, brauchen spirituelle Meister einige Inkarnationen. Verwirklichung ist eine sehr harte Aufgabe. Aber noch viel schwieriger ist es, Gott auf der Erde zu manifestieren. Das ist der Grund, warum viele spirituelle Meister nicht herab kommen um zu manifestieren.
Obwohl Gott in jedem Menschen weilt, überwiegt leider immer noch das Tier im Menschen. Wenn die Meister mit der Menschheit zu tun haben, sehen sie, dass sie noch völlig tierhaft ist. Nehmt das Beispiel Sri Ramakrishnas. Er nahm so viele negative und ungöttliche Kräfte seiner Schüler auf sich; er litt so sehr an ihrem Gift. Sonst wäre es für einen solch reinen Menschen unmöglich gewesen, an bösartigem Krebs zu leiden.
Gott zu verwirklichen ist schwierig. Nach der Verwirklichung in der unwissenden Welt zu leben und mit der Menschheit zusammen zu sein, ist noch schwieriger. Aber im Bewusstsein des Höchsten zu bleiben, während man im Niedersten arbeitet, das höchste Licht in das Niederste herab zu bringen und das Niederste zu bewegen, es zu empfangen und anzunehmen, ist am allerschwierigsten. Andererseits, wenn wir sagen, dass etwas schwierig oder am schwierigsten ist, machen wir uns nur selbst klein. Was sind schließlich spirituelle Meister? Sie sind Gottes auserwählte Kinder. Gottes auserwählte Kinder sind für immer und ewig eins mit Gott. Gott kann niemals von seinen Kindern, seiner Schöpfung, getrennt werden. Daher ist nichts schwierig, wenn wir es vom höchsten, absoluten Standpunkt aus betrachten – weder Gott zu verwirklichen noch Gott in der Menschheit zu dienen, noch die Verantwortung zu übernehmen, die Menschheit zur Göttlichkeit bzw. die Göttlichkeit zur Menschheit zu bringen. Alles ist leicht, leichter, am leichtesten, wenn eines vorhanden ist: die Berührung Gottes. Wenn Gottes Willen eine Handlung berührt, ist es sehr leicht.

Ich habe einmal gelesen, dass ein Meister herab kommen wird, um der Menschheit auf dieser Welt zu helfen und dann wird er auch von den anderen Welten aus weiterhin helfen. Ist das wahr?

Sri Chinmoy:
Wann immer die Notwendigkeit besteht, kommen große spirituelle Meister herab, um den noch unverwirklichten Seelen zu helfen. Sie spielen ihre Rolle in Gottes Spiel, Seiner göttlichen Lila. Sucher erhalten eine unglaubliche Gelegenheit, wenn sie in ihrem inneren Streben von wahren spirituellen Meistern Hilfe bekommen, denn allein durch persönliche Bemühung, ohne die Hilfe eines Meisters, ist es sehr, sehr schwierig, Verwirklichung zu erlangen. Inneres Streben ist von überragender Bedeutung, aber inneres Streben allein kann nicht zur Verwirklichung führen. Auch göttliche Gnade ist erforderlich. Und diese Gnade wirkt am einfachsten durch die großen spirituellen Meister. Diese Welt entwickelt sich und schreitet nur deshalb so schnell voran, weil große spirituelle Meister in die Welt kommen, um ihr zu helfen.
Nachdem ein Meister einige Inkarnationen hindurch auf der Erde gewirkt hat, will er seine Arbeit für die Menschheit vielleicht von der anderen Welt aus fortsetzen. Er hat alle verborgenen Winkel von Mutter Erde kennengelernt, er kennt jeden Herzschlag des Erdbewusstseins, und so kann er jetzt von einer anderen Ebene aus wirken.

Wenn ein Meister mehr Licht, Frieden und Glückseligkeit herab bringt, als die, die mit ihm meditieren, aufnehmen können, was geschieht dann damit?

Sri Chinmoy:
Es geht nicht alles verloren. Es verteilt sich über die Erde. Es tritt in die Erdatmosphäre ein und wird zum Eigentum der Erde. Wenn spirituelle Meister göttliche Qualitäten von Oben herab bringen, dann verkörpert Mutter Erde sie als ihr eigen. Wenn dann jemand auf der Straße oder irgendwo anders innerlich strebt, wird er diesen Frieden und dieses Licht vom Erdbewusstsein erhalten, aber er wird nicht wissen, woher sie kommen.

Verliert ein verwirklichter Meister etwas, wenn er sich dafür entscheidet, der leidenden Menschheit zu helfen, vor allem, wenn die Menschheit sich so sehr sträubt, seinen Reichtum anzunehmen?

Sri Chinmoy:
Ein verwirklichter Meister ist wie jemand, der gut auf Bäume klettern kann. Er hat die Fähigkeit hinauf und hinunter zu klettern. Wenn der Meister hinunter steigt, verliert er nichts, weil er weiß, dass er im nächsten Moment wieder hinauf klettern kann. Angenommen ein Kind steht am Fuße des Baumes und sagt: „Bitte gib mir eine Frucht; bitte gib mir eine köstliche Mango.“ Dann wird der Meister sofort eine Mangofrucht herab bringen und kurz darauf wieder hinauf klettern. Und wenn niemand sonst um eine Mango bittet, bleibt er oben auf dem Ast sitzen und wartet.
Wenn hier auf der Erde ein Mensch etwas anzubieten hat und der andere es nicht annimmt, dann wird der erste wütend. Er sagt: „Du Narr! Es ist zu deinem Besten, dass ich dir das gebe!“ Er wird den anderen beschimpfen und sehr unzufrieden sein, wenn seine Gabe nicht angenommen wird. Bei einem spirituellen Meister ist das anders. Er wird mit seinem Reichtum kommen, doch wenn die Menschheit diesen nicht annimmt, wird er sie nicht verfluchen. Selbst wenn die Menschheit ihn beleidigt und schlecht über ihn spricht, wird er sich nicht bei Gott über die Menschheit beschweren. Mit seiner grenzenlosen Geduld wird er sagen: „Gut, heute schläfst du. Vielleicht wirst du morgen aufstehen und dir ansehen, was ich dir zu geben habe. Ich werde auf dich warten.“ Wenn du fest schläfst, und jemand kneift dich und ruft: „Steh auf, steh auf!“ dann tut er dir damit keinen Gefallen. Du wirst dich nur ärgern. Doch der spirituelle Meister wird dich nicht stören; er wird dich nicht bitten aufzustehen. Er wird neben deinem Bett warten, bis du von selbst aufstehst. In dem Moment, wo du aufstehst, wird er dich bitten, die Sonne anzuschauen.
Ein echter spiritueller Meister wird nichts verlieren, wenn die Erde ablehnt, was er hat, weil er in seinem inneren Leben, in seinem inneren Bewusstsein fest gegründet ist. Wenn die Menschheit jedoch annimmt, was er zu geben hat, verliert er auch nichts. Je mehr er gibt, desto mehr erhält er von der Quelle. Genau wie im normalen Leben ist es auch im spirituellen Leben: Je mehr Wissen wir anderen anbieten, desto mehr erhalten wir. Einem spirituellen Meister wird es nie an Frieden, Licht und Glückseligkeit mangeln, weil er mit der unendlichen Quelle von allem verbunden ist.
Wenn man Zugang zu den unendlichen Fähigkeiten der inneren Welt hat, ist die Quelle wie ein Ozean. Man kann den unendlichen inneren Ozean nicht ausleeren. Ein echter Meister möchte seinen ergebenen Schülern alles geben, aber ihre Kraft der Empfänglichkeit ist begrenzt. Daher versucht er, ihr inneres Gefäß zu vergrößern und es so weit wie möglich zu machen, damit sie den Frieden, das Licht und die Glückseligkeit empfangen können, die er für sie bringt. Aber er kann einen Suchenden nicht zwingen, mehr zu empfangen, als er halten kann. Sonst würde sein Gefäß zerbrechen. Daher kann ein Meister nur unablässig sein Licht in seine Schüler strömen lassen, aber wenn die Grenze ihrer Empfänglichkeit einmal erreicht ist, verschwendet er es nur an sie.

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