Gott

Für Sri Chinmoy stellt sich die Frage nicht, ob es Gott gibt. Eher die Frage: Wer oder was ist Gott? Welche Beziehung besteht zwischen Gott und dem Menschen? Ist Gott männlich oder weiblich? Wie kann man Gott sehen? Was ist der Unterschied zwischen Gott schauen und Gott verwirklichen? Warum braucht Gott den Menschen?

In deinen Gedichten sprichst du manchmal von der Gleichgültigkeit des Himmels, aber Gott ist doch alles andere als gleichgültig. Kannst du mir das erklären?

Sri Chinmoy: Sagen wir, Gott sei der Vater, der Himmel sein Sohn und der Sucher dessen jüngerer Bruder. Der jüngere Bruder weint; er braucht Hilfe von seinem Vater oder von seinem Bruder. Innerlich ist der Vater voller Anteilnahme für seinen jüngeren Sohn, aber er ist nicht immer erreichbar, weil er im Büro arbeitet. Der ältere Bruder wäre zwar zu Hause, aber er ist so sehr mit seinen Hausaufgaben und anderen Dingen beschäftigt, dass er seinem armen kleinen Bruder keine Aufmerksamkeit schenkt. Der Vater hingegen ist voller Liebe und Fürsorge, und sobald er nach Hause kommt, bringt er dem jüngeren Sohn all seine Zuneigung entgegen.

Für den jüngeren Bruder ist es äußerst schwierig, ohne Hilfe zum Vater zu gelangen. Nun sind die kosmischen Götter und Göttinnen für den Sucher wie ältere Geschwister. Doch einige von ihnen sind auf ihre Art eifersüchtig. Diese Erfahrung haben die meisten spirituellen Meister gemacht. Zu Beginn unterstützen die kosmischen Götter und Göttinnen den Sucher auf seinem Weg nach oben, doch sobald dieser sich dem Gipfel nähert, lassen sie ihn nicht nur im Stich, sondern versuchen sogar zu verhindern, dass er sie übertrifft. Dies ist schon unzählige Male vorgekommen.

Ich will dir noch ein Beispiel geben. Jemand ist auf einen Baum geklettert und du befindest dich am Fuße des Baumes. Du kannst nicht klettern und so kommt diese Person zu dir herunter und bringt es dir bei. Daraufhin beginnst du hinaufzuklettern, während dein Lehrer wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrt und auf dich wartet. Sobald du jedoch seine Höhe erreicht hast, ist er nicht mehr bereit, dir weiterzuhelfen, denn er hat den Gipfel selbst noch nicht erreicht und ist daher unsicher. Gestern bist du noch hilflos am Boden gestanden und so brachte er dir das Klettern bei. Aber heute bist du nahe daran, deinen Lehrer zu übertreffen. Warum sollte er das zulassen? Wenn er jedoch weise wäre, würde er aufgrund seines Einsseins mit dir sagen: "Er ist doch mein kleiner Bruder. Warum sollte er mich nicht übertreffen dürfen? Schließlich ist seine Errungenschaft auch meine Errungenschaft!"

Ein Sprichwort sagt: "Jeder will gewinnen, aber nicht gegen seinen eigenen Sohn und seine eigene Tochter." Gott weiß, wie weit dieses Sprichwort zutrifft. In Amerika habe ich etwas beobachtet, das mir in Indien völlig unbekannt war: dass Mütter auf ihre Kinder wirklich eifersüchtig sein können. Nicht alle, aber doch viele der Mütter und Väter, die unser Meditationszentrum besucht haben, waren direkt oder indirekt auf ihre Kinder eifersüchtig. Zu Beginn bringen die Eltern ihren Kindern bei, wie man effizient lernt oder selbstlos handelt. Danach verkünden sie stolz: "Meine Tochter hat dieses, mein Sohn jenes getan." Wenn die Welt ihren Kindern dann Anerkennung zollt, mögen sie sich darüber auch durchaus aufrichtig freuen. Manchmal jedoch brennt ihnen das Herz, weil sie selbst vielleicht kein Diplom gemacht oder weniger als ihre Kinder erreicht haben. Das kommt von ihrem Gefühl der Trennung.

Wie kannst du im Kugelstoßen Erfolg haben, wenn du deine Finger als voneinander getrennt betrachtest? Der kleine Finger besitzt viel weniger Kraft als die anderen, doch beim Kugelstoßen müssen alle Finger zusammen arbeiten. Wenn du das Gefühl hast, dieser kleine Finger sei nutzlos und es wäre besser, ihn gar nicht zu besitzen, wirst du bald bemerken, dass du ohne ihn hilflos bist. Wenn der Stärkere die Schwächeren ausschließt, werden letztlich alle leiden.

Zu Beginn mag der Stärkere prahlen, doch wenn der Schwächere stärker wird, fürchtet der Überlegene, vom Schwächeren übertroffen zu werden. Der einzig wirklich Überlegene aber ist Gott. Er ist immer überlegen, aber Er fühlt sich nicht so und handelt auch nicht danach. Er weiß, dass wir alles, was Er ist, auch in uns tragen. Für Ihn gibt es keine Trennung. Sein Herz ist mein Herz. Er weiß, wer Er ist und wer ich bin. Er ist der Schöpfer, und der Schöpfer trennt sich nie von seiner Schöpfung. Aber der Himmel ist eben nicht der eigentliche Schöpfer. Er fühlt sich nicht immer eins mit der Schöpfung und deshalb kommt es immer wieder zu Problemen. Gott identifiziert Sich mit Seiner Schöpfung und daher betrachtet Er Seine Schöpfung als nicht von Seiner Wirklichkeit getrennt.

Wenn du davon sprichst, dass du Gott von Angesicht zu Angesicht siehst, wie ist dann deine Vorstellung von Gott?

Sri Chinmoy:
Gott hat eine Form; Gott hat keine Form. Er hat Eigenschaften; Er hat keine Eigenschaften. Wenn ein Mensch Gott als unendliche Ausdehnung von Licht und Wonne sehen will, dann wird ihm Gott als unendliche Ausdehnung von Licht und Wonne erscheinen. Aber wenn er Gott als das glanzvollste, strahlendste Wesen sehen will, dann wird Gott in dieser Form zu ihm kommen. Natürlich untertreibe ich, wenn ich sage, dass Gott die Form eines strahlenden Wesens annimmt. Er ist nicht einfach nur strahlend. Er ist etwas, das ich dir nicht mit menschlichen Begriffen beschreiben kann.
Was mich betrifft, so habe ich Gott sowohl mit Form als auch ohne Form gesehen. Doch wenn ich von Gott spreche, spreche ich von Ihm als einem Wesen, weil diese Vorstellung für den menschlichen Verstand leichter zu erfassen ist. Wenn du sagst, dass etwas eine Form, eine Gestalt hat, dann spricht das den einzelnen Menschen an. Ansonsten bleibt Gott nur ein vager Begriff. Wenn ich sage, dass Gott Glückseligkeit ist, und wenn der Sucher noch keine Glückseligkeit erfahren hat, dann wird er hoffnungslos verwirrt sein. Aber wenn ich einem Sucher sage, dass Gott wie ein Mensch ist, wie ein allmächtiger Vater, der dieses sagen oder jenes tun kann, dann kann er es sich vorstellen und daran glauben.
Wenn ein Mensch an ein Wesen denkt, das größer ist als er selbst, dann denkt er sofort an etwas, dass einem Menschen ähnlich ist. Es ist viel leichter, sich Gott mit einer Form vorzustellen. Ich werde jedoch niemals sagen, dass diejenigen Unrecht haben, die Gott ohne Form, als eine unendliche Ausdehnung von Licht, Wonne, Energie oder Bewusstsein, sehen wollen. Ich fühle einfach, dass der andere Weg leichter ist.

In welcher Form erscheint dir der Supreme?

Sri Chinmoy:
Gewöhnlich sehe ich den Supreme in Gestalt eines goldenen Wesens, eines höchst erleuchteten und erleuchtenden Wesens. Wenn wir hier auf der Erde sagen, dass ein Kind außerordentlich schön sei, dann bewerten wir seine Gestalt. Aber ich möchte sagen, dass der Supreme unendlich viel schöner ist als jedes menschliche Kind, das wir kennen. So sehe ich den Supreme, wenn ich mich mit Ihm unterhalte. Es ist die Form, die ich am liebsten habe. Gleichzeitig kann mein Geliebter aber auch die formlose Form annehmen. Andere spirituelle Meister bevorzugen andere Formen, und der Supreme erscheint ihnen in der jeweiligen Gestalt. Auf diese Weise lässt Er uns Sein Mitleid ausnutzen.

Wie kann man Gott in diesem Leben erreichen?

Sri Chinmoy:
Lass uns anstelle des Wortes „erreichen“ das Wort „verwirklichen“ gebrauchen. Wenn wir den Ausdruck „erreichen“ gebrauchen, fühlen wir, dass wir zu einem bestimmten Ort gelangen müssen. Jetzt sitzt du dort drüben, und wenn du mich erreichen willst, musst du entweder zu mir gehen oder springen oder fliegen. Wenn wir jedoch den Ausdruck „verwirklichen“ gebrauchen, gibt es diese Trennung nicht. Wo ist Gott? Gott ist tief in uns. Aber Gottverwirklichung in einem Leben, in einer kurzen Lebensspanne, durch eigene Anstrengung ist so gut wie unmöglich. Wenn der Sucher jedoch neben seiner persönlichen Bemühung absolutes inneres Streben und zielgerichtete Hingabe besitzt, wenn er den Segen, die Gnade und Anteilnahme eines sehr großen spirituellen Meisters hat, der für seine Schüler Gott verkörpert, und wenn er diesbezüglich durch seinen Meister bestätigt wurde, dann kann er in einem Leben Gott verwirklichen.
Wenn jemand keinen völlig verwirklichten Meister oder Guru hat, sein inneres Streben aber höchst intensiv ist, dann regnet Gottes Gnade auf ihn herab und Gott selbst spielt die Rolle eines menschlichen Lehrers, das heißt, eines spirituellen Meisters. Wenn Gott sieht, dass der betreffende Sucher absolut aufrichtig ist und er die Selbstverwirklichung in diesem Leben verdient, dann spielt Gott, wie gesagt, die Rolle eines menschlichen Gurus. Ansonsten ist es ein spiritueller Meister, der zum Führer wird und dich über den Ozean der Unwissenheit zum Licht, zur Weisheit, zum Frieden, zur Glückseligkeit und Fülle trägt.
Du hast einen Guru erhalten, daher ist dein Problem gelöst, und deine Strebsamkeit ist äußerst intensiv. Ich sage dies aus der Tiefe meines Herzens, dass dich dieser Guru niemals enttäuschen wird. Du wirst immer in den tiefsten Winkeln seines Herzens sein. Er wird dich tragen, dich zum goldenen Ufer des Jenseits tragen.

Es gibt verschiedene Wege, sich Gott zu nähern. Wenn jemand drei unterschiedliche Qualitäten besitzt, wird das seinen Fortschritt behindern?

Sri Chinmoy:
Anstatt zu behindern, hilft es vielmehr. Du solltest jedoch dem Weg, der dein Wesen am meisten inspiriert, mehr Bedeutung beimessen.
Zum Beispiel: die Haltung des Dienens, die Haltung der Ergebenheit und die Haltung des Wissensdurstes werden dir gemeinsam helfen, einen ausgewogenen Fortschritt zu machen. Aber an einem Punkt in deinem Leben musst du herausfinden, was dich am meisten inspiriert. Jede Seele hat ihre eigene Art, sich vorwärts zu bewegen. Hier auf der Erde werden wir entsprechend der Neigung unserer Seele inspiriert, Fortschritt zu machen. Wenn du alle Wege akzeptierst, ist dies eine große Hilfe. Gleichzeitig musst du aber den Weg deiner eigenen Seele wählen, den Weg, der dir die größte Erfüllung im Einklang mit deinem tiefsten Streben schenkt.

Welcher Art ist deine Beziehung zum Supreme?

Sri Chinmoy:
Unsere Beziehung ist die von Vater und Sohn. Aus Seinem unendlichen Mitleid heraus hat Er in mir die Flammen inneren Strebens entzündet. Diese Flammen erheben sich hoch, höher, zum Höchsten. Mein Streben trägt bedingungslose Liebe, Ergebenheit und Selbsthingabe in sich.
Im menschlichen Leben ruft Vertrautheit Verachtung hervor, doch im spirituellen Leben nimmt die Vertrautheit zwischen dem Sucher und dem höchsten Führer nur an Intensität und Stärke zu. Vertrautheit kann die Süße, die Liebe und die Anteilnahme, die zwischen dem Sucher und dem Supreme fließen, nicht verringern. Im Gegenteil, Vertrautheit verstärkt diese Eigenschaften nur noch. Wenn ich dem persönlichen Aspekt des Supreme begegne, verstärkt Er meine Liebe, Ergebenheit und Selbsthingabe. Er macht mir bewusst, was Er ewig ist. Je vertrauter wir mit Ihm werden, desto mehr festigen wir unser Einssein, unser ewig erfüllendes Einssein mit Ihm.
Für den wahren Sucher kann der persönliche Aspekt keine Probleme bereiten. Wenn sich zwei Menschen näher kommen, hat dies oft keinen Bestand, weil sie die Schwächen im anderen sehen. Aber der persönliche Aspekt des Supreme weiß, wer wir sind. Er betrachtet uns nicht als unvollkommen; wir sind für Ihn Seine eigene unendliche Ausdehnung. Er hat an uns nichts auszusetzen, weder auf der physischen noch auf der psychischen Ebene. Er ist es, der uns zur sich ewig transzendierenden Vollkommenheit trägt.

Was ist der Unterschied zwischen Gott sehen und Gott verwirklichen?

Sri Chinmoy:
Es besteht ein großer Unterschied zwischen Gott sehen und Gott erkennen oder verwirklichen. Wenn wir Gott sehen, können wir Ihn als ein Individuum oder als einen Gegenstand oder als etwas anderes sehen. Aber wir verkörpern Ihn nicht bewusst und dauerhaft und empfinden Ihn nicht bewusst als unser eigen. Wenn wir Gott sehen, ist es wie einen Baum zu sehen. In diesem Moment verkörpern wir nicht bewusst das Baumbewusstsein. Und da wir es nicht verkörpern, können wir es nicht enthüllen oder manifestieren. Aber in dem Moment, wo wir etwas verwirklichen, wird es ein Teil unseres Lebens. Wir sehen vielleicht eine Blume, aber erst wenn wir die Blume verwirklichen, werden wir tatsächlich eins mit dem Bewusstsein der Blume.
Wenn wir etwas nur anschauen, können wir es nicht als unser eigen betrachten, und auch der jeweilige Gegenstand wird uns nicht als sein eigen betrachten. Sehen spielt sich auf der physischen Ebene ab, während Verwirklichung auf der inneren Ebene stattfindet. Sehen dauert nicht an, während Verwirklichung bei uns bleibt. Wenn wir etwas sehen, hält diese Schau vielleicht eine Weile an, aber wenn wir etwas verwirklichen, bleibt diese Verwirklichung für immer.

Ist es möglich, Gott weh zu tun?

Sri Chinmoy:
Weißt du, wann du Gott weh tust? Du tust Gott in dem Moment weh, wo du deine innere Fähigkeit unterschätzt. Du tust Gott in dem Moment weh, wo du deine selbst auferlegte äußere Verantwortung übertreibst. Du tust Ihm zutiefst weh, wenn du die sinnlose Vorstellung hegst, dass Gottverwirklichung nicht für dich gemeint ist. Denn eines ist sicher: Gottverwirklichung ist die mächtigste Versicherung, die großartigste Gewissheit zu Gottes auserwählter Stunde.

Was sollte ich tun, um mich daran zu erinnern, dass ich Gott genauso sehr brauche wie Er mich braucht?

Sri Chinmoy:
Sage immer: „Ich brauche Gott, damit ich mein Höchstes verwirklichen kann, und Gott braucht mich, damit Er Sich in mir und durch mich manifestieren kann.“ Das ist Gottes eigene erhabene Philosophie. Fühle immer dies: „Wegen meiner Unwissenheit weiß ich nicht, wie ich Ihn verwirklichen oder erfüllen kann, doch aufgrund Seines Wissens kennt Gott die unendlichen Möglichkeiten, wie Er mich für Seine Manifestation einsetzen kann.“

Aber wir sind nicht verwirklicht – brauchen wir deshalb Gott nicht mehr als Gott uns braucht?

Sri Chinmoy:
Wir haben das Gefühl, dass wir Gott mehr brauchen als Gott uns braucht, weil wir nicht verwirklicht sind. Doch das ist falsch. Gott braucht uns ebenso sehr, wenn nicht noch mehr. Warum? Er kennt unser Potenzial, unsere Möglichkeiten unendlich viel besser als wir. Wir glauben, dass wir nur bis zu einem bestimmten Punkt gehen können, aber Er weiß, dass wir Millionen von Meilen weit gehen können. Unsere Unwissenheit erlaubt uns nicht zu erkennen, was wir wirklich sind. Wir halten uns für nutzlos, hoffnungslos und hilflos, aber in Gottes Augen sind wir tatsächlich Seine göttlichen Instrumente. Er möchte uns auf unendlich viele Weisen einsetzen. Das ist Sein Traum: Er möchte, dass wir nicht nur unendlich, sondern auch ewig und unsterblich sind. Er weiß, dass wir die Fähigkeit dazu haben, weil Er uns die Fähigkeit dazu gab. Jetzt will Er, dass wir unsere Fähigkeiten nutzen.

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