Gottverwirklichung, Selbstverwirklichung

Verwirklichung ist die höchste Form der Selbst-Entdeckung – die Erfahrung einer unmittelbaren Wirklichkeit jenseits aller mentalen Spekulation. Was uns von dieser Wirklichkeit trennt, ist unsere Unwissenheit – avidya. Wie können wir diese Unwissenheit überwinden? Gehen unsere Bemühungen verloren, wenn wir es nicht in diesem Leben gelingt? Haben Mystiker Verwirklichung erlangt?

Wenn ein Sucher einmal fortgeschritten ist, verschwinden dann alle Hindernisse auf dem Weg zur Gott-Verwirklichung und wird seine Verwirklichung dann eine Gewissheit für diese Inkarnation?

Sri Chinmoy:
Solange du nicht das Ziel erreicht hast, gibt es keinerlei Gewissheit. Du bist vielleicht nur noch einen Schritt vom Ziel entfernt und kannst dennoch fallen. Selbst im letzten Moment weißt du nicht, ob du das Rennen gewinnen wirst oder nicht. Die letzte Prüfung vor der Gott-Verwirklichung ist außerordentlich schwierig. Glaub mir, viele wirklich aufrichtige Sucher stehen kurz davor Gott zu verwirklichen; in der inneren Welt sind sie nur noch wenige Zentimeter davon entfernt, aber dann werden sie von feindlichen Kräften erbarmungslos angegriffen und fallen. Dann brauchen sie so lange, bis sie wieder aufstehen. Manche Sucher brauchen sechs Monate oder zwei Jahre oder vier Jahre, andere müssen sogar bis zur nächsten Inkarnation warten. Sei daher immer auf der Hut und lauf so schnell du kannst deinem Ziel entgegen. Bleib nicht stehen, bevor das Rennen gewonnen ist, sonst zieht dich die Kraft der Unwissenheit wieder zurück zum Ausgangspunkt.

Stellt die Technik ein Hindernis bei der Gott-Verwirklichung dar?

Sri Chinmoy:
Die Antwort ist sowohl Ja als auch Nein. Wenn die moderne Technik dem Ausdruck der inneren Seele dient, wenn sie fühlt, dass sie eine Verbindung mit dem inneren Leben, mit der inneren Existenz hat, dann ist die Technik eine Hilfe bei der Gott-Verwirklichung. Aber sehr oft stellen wir fest, dass die Technik und das innere Leben nicht zusammen finden. Die äußere Welt läuft mit ihrem Erfolg einem anderen Ziel entgegen. Wir müssen dabei sehr achtsam sein, denn egal wie viel Erfolg wir durch die Technik erzielen, grenzenlose Erfüllung kann nicht erreicht werden, wenn die Seele dabei fehlt. Auf der anderen Seite ist die Seele gelähmt, wenn das äußere Leben ohne technischen und wissenschaftlichen Fortschritt nicht mit ihr Schritt hält.
Für die absolute Erfüllung von Gottes Vision und Wirklichkeit hier auf Erden müssen Wissenschaft und Spiritualität Hand in Hand gehen. Von der Spiritualität können wir Befreiung und Verwirklichung erwarten. Von Technik und Wissenschaft können wir materielle Vollkommenheit erwarten – die materielle Verkörperung der höchsten Wahrheit. Nur wenn im materiellen Erfolg Verwirklichung zu finden ist, kann die materielle Welt Dauerhaftigkeit in ewigen Werten gewinnen. Wenn andererseits in der inneren Welt Vollkommenheit fehlt, muss der materielle Erfolg die innere Verwirklichung anregen, zum Vorschein zu kommen und die Führung zu übernehmen.

Ich habe gelesen, dass Verwirklichung nicht eine Errungenschaft, sondern eine Entdeckung ist.

Sri Chinmoy:
Ja, Verwirklichung ist zwar keine Errungenschaft, sondern eine Entdeckung; aber wenn wir etwas entdecken, wird es zu unserer Errungenschaft. In dem Moment, wo wir etwas entdecken, wird es zu einem festen Bestandteil unseres Daseins, und was immer fester Bestandteil unseres Daseins wird, wird unsere Errungenschaft. In der Entdeckung selbst liegt die Errungenschaft. Wenn ein Wissenschaftler etwas entdeckt, wird es zum Eigentum der ganzen Welt, aber es ist dennoch seine Errungenschaft. Genauso ist es, wenn man Gott verwirklicht. Obwohl Gott schon immer da war und sowohl der inneren als auch zur äußeren Welt gehört, ist Gott-Verwirklichung die bedeutendste Errungenschaft für jeden einzelnen Menschen.
Wahrheit und Göttlichkeit existieren bereits in uns, aber wir ignorieren sie. Da wir sie nicht nutzen, sind sie uns fremd geworden. In dem Moment jedoch, wo wir sie in uns entdecken, werden sie zu unserer eigenen Errungenschaft. Sie werden zu unserer Errungenschaft durch unsere aufrichtige persönliche Bemühung und Gottes ständige innere Gnade.

Welcher Teil des Menschen erlangt Verwirklichung?

Sri Chinmoy:
Wenn die Verwirklichung stattfindet, so ist es das ganze Wesen, welches Gott verwirklicht. Die Seele hat Gott schon verwirklicht, doch die Seele bringt dann ihr verwirklichtes Bewusstsein zum Vorschein. Sie tritt in das Herz ein und versucht das Herz mit ihrem göttlichen Bewusstsein zu durchdringen. Vom Herzen aus geht die Verwirklichung dann zum Verstand, vom Verstand zum Vitalen und vom Vitalen zum physischen Körper. Wenn sie das Physische, das Vitale, das Mentale und das Psychische umfasst, ist die Verwirklichung vollständig.
Wahre Verwirklichung lässt uns erkennen, dass wir weder der Körper noch der Verstand noch etwas anderes sind, sondern die Seele, welche eine Manifestation des Göttlichen ist. Wenn er Gott verwirklicht, wird jeder Mensch fühlen, dass er ein bewusster Teil Gottes ist. Das Physische ist begrenzt, doch die Seele ist unbegrenzt. Wenn wir von Verwirklichung sprechen, beziehen wir uns auf etwas Unbegrenztes, Unendliches. Wenn wir Gott verwirklichen, gehen wir über das Körperbewusstsein hinaus und werden eins mit der unbegrenzten Fähigkeit der Seele.

Ist es möglich, Gott zu verwirklichen, ohne in einer Höhle zu leben?

Sri Chinmoy:
Nicht alle spirituellen Meister haben sich in die Höhlen des Himalaya zurückgezogen, um Gott zu verwirklichen. Ich habe Gott nicht in einer Höhle des Himalaya verwirklicht. Die meisten spirituellen Meister, wie Sri Ramakrishna, Buddha, Sri Aurobindo und andere, meditierten nicht in den Höhlen des Himalaya.
Es gab eine Zeit, wo es für die Leute notwendig war, sich von der Welt zurückzuziehen, aber jetzt ist es keineswegs mehr notwendig. Wenn du dich der Welt nicht stellst, wird dich die Welt verfolgen und dich jagen wie einen Dieb. Aber warum sollten wir uns vor der Welt fürchten? Wenn du standhaft bist und die Welt annimmst, dann wird die Welt vor dir den Hut ziehen und sagen: „Er ist stark.“ Wenn du vor der Welt Angst hast, wird dich die Welt wie ein Löwe verschlingen. Hast du aber die Fähigkeit, wie ein göttlicher Held zu handeln und dich der Welt zu stellen, dann werden Gottes Mitleid, Gottes Licht und Gottes Kraft auf dich herab strömen.
Spiritualität ist für die Mutigen. Gott-Verwirklichung ist für die Mutigen; sie ist nichts für Schwache. In fast allen indischen Schriften wird übereinstimmend gesagt: „Die Seele kann nicht von einem Schwächling gewonnen werden.“ Nur diejenigen, die Stärke besitzen, werden vorwärts marschieren und das Ziel erblicken.

Welches sind die Aspekte Gottes, die Gott-Verwirklichung so schwierig machen?

Sri Chinmoy:
Gott hat zwei Aspekte – den persönlichen und den unpersönlichen Aspekt. Wenn du Gott nicht in Seinem persönlichen Aspekt annimmst, dann wird Gott-Verwirklichung äußerst schwierig sein. Wenn wir Gott in Seinem unpersönlichen Aspekt sehen, als eine unendliche Ausdehnung von Frieden und Licht, wird es außerordentlich schwierig sein, diesen Aspekt zu verwirklichen. Wenn wir aber den persönlichen Aspekt sehen, wird es sehr leicht, in den unpersönlichen Aspekt einzutreten. Wenn du eine Person nicht kennst und nur ihren Namen hörst, wird es dir schwer fallen, eine klare oder enge innere Beziehung zu ihr aufzubauen.

Gibt es eine Möglichkeit, den Weg zur Verwirklichung zu verkürzen?

Sri Chinmoy:
Es gibt zwei Wege. Der eine ist der Weg des Verstandes; der andere ist der Weg des Herzens. Der Weg des Herzens ist eine Abkürzung. Wenn wir den Weg des Verstandes entlang gehen, werden wir sehr oft zweifeln. Wie werden unser eigenes Streben anzweifeln, wir werden unsere eigenen Erfahrungen anzweifeln und wir werden unser Gefühl für Gott anzweifeln. In diesem Moment lieben wir Gott, im nächsten Moment lieben wir Gott nicht, weil Gott unsere Wünsche nicht erfüllt hat. Auf dem Weg des Verstandes widersprechen wir ständig unseren eigenen Gedanken. In diesem Moment sagen wir, dass der Weg sehr gut ist, und wir machen Fortschritt, im nächsten Moment, wenn unsere Wünsche nicht erfüllt werden und Zweifel uns befällt, kommt unser Fortschritt zum Stillstand.
Der andere Weg ist der Weg des Herzens. Sobald wir Gott lieben, springen wir in das Meer von Frieden, Licht und Glückseligkeit. Wie ein Tropfen, der in den mächtigen Ozean fällt, fühlen wir, dass wir zum Ozean selbst geworden sind. Wenn wir den Verstand benutzen, denken wir sofort: „In einem solch unermesslichen Ozean werde ich ausgelöscht werden.“ Aber das Herz wird sagen: „Nein, ich werde springen. Wenn ich springe, werde ich nicht verloren sein. Ich werde nur zum Unendlichen werden.“ Das Herz ist ein Kind, und ein Kind hat immer Vertrauen zu seinen Eltern. Wenn wir also einen Meister haben, werden wir an ihn glauben, und wir werden auch an Gott glauben, denn Gott wird immer das tun, was das Beste für uns ist. Das fühlen wir, wenn wir dem Pfad des Herzens folgen. Der Pfad des Herzens ist der kürzeste Pfad.

Wie lange würde eine Durchschnittsperson, die einen spirituellen Weg beginnt, benötigen, um Gott zu verwirklichen?

Sri Chinmoy:
Es hängt ganz von der Aufrichtigkeit und der Ernsthaftigkeit des Schüler-Suchers ab. Seine Meditation muss höchst aufrichtig, ergeben und erfüllend sein. Wenn jemand acht oder zwölf Stunden täglich höchst ergeben und seelenvoll meditieren kann, dann besteht jede Möglichkeit, dass dieser Sucher in der kurzen Spanne eines Lebens Gott verwirklichen kann. Aber wenn jemand, sagen wir, nur fünf Minuten am Tag meditiert, selbst wenn es höchst seelenvoll ist, dann wird es für diese Person kaum möglich sein, Gott in einem Leben zu verwirklichen. Es ist jedoch besser, wenigstens eine Minute höchst aufrichtig und ergeben zu meditieren als zehn Stunden lang ohne Aufrichtigkeit.
Andererseits gibt es keine feste Regel. Doch es gibt Gottes Gnade. Wenn du einen spirituellen Meister höchsten Ranges bekommst, brauchst du keine zwölf oder sechzehn Stunden am Tag zu meditieren. Nein, du meditierst eine oder zwei Stunden täglich höchst ergeben, und mit der Gnade des Meisters kannst du denselben Fortschritt machen, den du machen würdest, wenn du zwölf oder sechzehn Stunden ohne Meister meditierst.

Wie erkennst du persönlich, ob jemand verwirklicht oder teilweise verwirklicht ist?

Sri Chinmoy:
Wenn jemand verwirklicht ist, kann er leicht die Verwirklichung anderer erkennen. Aufgrund meines Einsseins und meiner Identifikation mit ihrem Bewusstsein kann ich leicht etwas über die Verwirklichung anderer sagen.

Können wir es eigentlich fühlen, wenn unsere Verwirklichung herannaht, oder erscheint sie plötzlich und unerwartet?

Sri Chinmoy:
Wahre Verwirklichung kann nicht unerwartet erscheinen. Langsam und allmählich gelangen wir an den Punkt, wo wir Gott verwirklichen. Wenn jemand an der Schwelle zur Verwirklichung steht, wird er wissen, dass es sich nur noch um Tage oder Monate oder Jahre handelt. Verwirklichung bedeutet vollständiges, bewusstes Einssein mit Gott. Wenn jemand nicht einmal begrenztes bewusstes Einssein mit Gott hat, wie kann er da auf einmal unbegrenztes bewusstes Einssein mit Gott erlangen? Es ist wahr, dass Gott alles tun kann, dass Er Verwirklichung gewähren kann, ohne etwas vom Sucher zu verlangen. Aber wenn Gott dir Verwirklichung geben würde, ohne dass du meditierst und ein spirituelles Leben führst, dann würde es jeder erwarten.
Manche Menschen erhalten die Verwirklichung nach lediglich vier oder fünf Jahren der Meditation, während andere, die dreißig, vierzig oder fünfzig Jahre meditiert haben, noch weit davon entfernt sind. Aber du solltest dir bewusst sein, dass der Mensch, der nach nur vier oder fünf Jahren der Meditation Gott verwirklicht, nicht seine erste Inkarnation als Sucher hat. Er hat seine bewusste Reise vielleicht vor langer Zeit begonnen, als du noch nicht einmal an Gott gedacht hast. Jetzt vollendet er seine Reise zur Gott-Verwirklichung, während du gerade erst damit beginnst. Andererseits sollten wir uns bewusst sein, selbst wenn wir in der Vergangenheit schon viele Inkarnationen lang meditiert haben und in der jetzigen Inkarnation einige Jahre meditieren, bedeutet das nicht, dass wir Gott verdient haben. Es war Gottes Gnade, die in unseren früheren Inkarnationen gewirkt hat, und es ist Gottes Gnade, die uns auch in dieser Inkarnation hilft, Ihn zu verwirklichen.
Von deiner beständigen, lebenslangen Meditation kannst du Gott-Verwirklichung erwarten, aber erst zu Gottes auserwählter Stunde. Du magst sie sofort haben wollen, aber Gott sieht vielleicht, dass du der Menschheit mehr schaden als nützen würdest, wenn du Ihn jetzt verwirklichst. Gott hat daher Seine eigene Stunde für deine Verwirklichung, und wenn diese Stunde herannaht, wirst du es wissen.

Inhalt abgleichen (C01 _th3me_)