Guru, Meister, Lehrer
War das, was Sri Ramakrishna passiert ist?
Sri Chinmoy:
Ja, Sri Ramakrishna nahm die Unvollkommenheiten all seiner Schüler auf sich. Dann heilte er sie, er rettete sie. Er musste den Krebs auf sich nehmen und er starb daran. Aufgrund seiner Liebe, seiner Vertrautheit und seiner Verbundenheit nahm er ihre Unvollkommenheiten in sich auf. Es kommt häufig vor, dass eine Mutter ihr eigenes Leben opfert, um ihr Kind zu retten. Und die Beziehung zwischen einem Guru und seinem Schüler ist unendlich viel enger als die Beziehung zwischen Mutter und Sohn. In diesem Leben hast du einen Sohn, aber im nächsten Leben weißt du nicht, ob er vielleicht in Indien geboren wird, während du in Japan oder woanders zur Welt kommst. Im nächsten Leben kann eure Verbindung unterbrochen sein. Aber im Falle eines spirituellen Meisters, einer verwirklichten Seele, weiß er, wo ein bestimmter Schüler in seiner nächsten Inkarnation wiedergeboren wird und wo er selbst wiedergeboren wird. Seine Verbindung mit seinem Schüler und seine Beziehung zu ihm wird die ganze Ewigkeit hindurch andauern. Der Guru muss seinen Schüler zu Gott bringen. Solange er das nicht getan hat, hat er seine Aufgabe nicht erfüllt.
Du musst eine lebendige Beziehung und Verbindung zu deinem Guru aufbauen. Wenn du zu deinem Guru betest, musst du fühlen, dass er in dir atmet. Wenn du eine solche Beziehung begründet hast, kannst du versichert sein, dass der Guru dich zu deinem vorherbestimmten Ziel bringen wird.
Warum werden spirituelle Meister krank, wenn sie doch mit Gott in Berührung stehen?
Sri Chinmoy:
Oft sterben spirituelle Meister an sogenannten schweren Krankheiten. Aber diese armen Meister sind nicht dafür verantwortlich. Vielmehr ist es so, dass sich ein Meister mit seinen Schülern identifiziert; seine Liebe und Zuneigung zu seinen Schülern ist grenzenlos. Daher versucht er, die Unvollkommenheiten seiner Schüler auf sich zu nehmen und sie aufzulösen. Es ist wie bei einer Mutter und ihrem Sohn. Wenn die Mutter sieht, dass das Kind leidet, sagt sie: „Gib mir dein Leiden!“ Man kann nicht sagen, dass der Guru unvollkommen ist, nur weil er leidet. Nein, er leidet für seine eigenen spirituellen Kinder. Sie haben etwas falsch gemacht und aus seiner Güte und seinem Mitleid heraus zieht er diese Unvollkommenheit in sich hinein. Es gibt verschiedene Gründe, warum spirituelle Meister krank werden.
Aber woher weiß der Schüler, dass sein Gefühl echt ist?
Sri Chinmoy:
Wenn sein Gefühl absolut wahr ist, dann braucht er in diesem Punkt keinerlei Bestätigung. Niemand braucht es ihm zu sagen. Wenn ein Schüler ständige, freudige und bedingungslose Selbsthingabe an Gott vollziehen kann, dann ist er oder sie der liebste Schüler des Meisters. Absolute Selbsthingabe an den Willen des Höchsten hat im spirituellen Leben nicht ihresgleichen.
In dem Moment, wo du einen Meister brauchst und er dich braucht, in dem Moment, wo du den Meister in dir, vor dir und um dich herum fühlst, existiert der Tod nicht länger für dich. Wenn der Meister nicht in deinem Denken lebt, wenn der Meister nicht in deinem Herzen zu finden ist, wenn du fühlst, dass der Meister weit weg von dir ist, dann existiert für dich der Tod. Wo sonst ist der Tod? Dieser physische Körper wird die Erde verlassen, aber die Seele, die ein bewusster Teil Gottes ist, wird in alle Ewigkeit in Gott und für Gott bleiben.
Wie kann ein Schüler dann wissen, ob er bzw. sie dem Guru nahe steht?
Sri Chinmoy:
In dem Moment, wo der Schüler fühlt, dass er dem Guru alles – sein äußeres wie auch sein inneres Leben - dargebracht hat, kann er spüren, dass er ihm am liebsten und am nächsten ist. Wenn er nur lebt, weil der Guru möchte, dass er lebt, wenn er um des Gurus willen, um des Göttlichen willen lebt, dann wird er zweifellos fühlen, dass er dem Meister lieb und teuer ist.
Willst du damit ausdrücken, dass jedem Schüler gemäß seiner oder ihrer Empfänglichkeit gegeben wird?
Sri Chinmoy:
Ja, ein Schüler kann die Rolle eines Führers übernehmen und er kann als der spirituelle Nachfolger des Meisters beschrieben werden, aber die spirituellen Kräfte und Errungenschaften eines Meisters werden jedem Schüler gemäß dessen Fähigkeiten und Empfänglichkeit gegeben. Der Meister mag einen Schüler zum Führer machen, so wie es Sri Ramakrishna mit Vivekananda getan hat. Es kann nicht jeder ein Führer sein. Aber selbst der Führer wird vom Meister entsprechend seiner jeweiligen spirituellen Fähigkeit und Empfänglichkeit etwas aufnehmen. Es gibt viele aufrichtige Schüler, die keine Führungsqualitäten haben, die aber gleichzeitig äußerst aufrichtig streben. Wenn sie aufrichtig sind, können auch sie alles erhalten.
Übertragen spirituelle Gurus all ihre Kraft auf einen spirituellen Nachfolger?
Sri Chinmoy:
So ist das eigentlich nicht. Wenn der Guru sehr groß ist und wirkliche Kraft besitzt, dann ist es gut möglich, dass seine Kraft an einen spirituellen Nachfolger übertragen wird. Sri Ramakrishna hatte einen spirituellen Nachfolger, Vivekananda. Doch gleichzeitig hatte er noch einige andere Schüler, die spirituelle Größen waren. Brahmananda war mit Sicherheit einer von ihnen. Man kann sagen, dass ein Meister vielleicht einen besonders wichtigen Schüler hat, aber man kann nicht sagen, dass er diesem all seine spirituelle Kraft, all sein Licht schenkt, während andere praktisch nichts bekommen. So ist das nicht. Wenn der Meister Gott verwirklicht, verkörpert er für seine jeweiligen Schüler das Göttliche. Und weil er das Göttliche verkörpert, sind seine spirituelle Kraft, sein Wissen, sein Licht und seine Wonne tatsächlich unbegrenzt. Jeder Schüler kann grenzenloses Licht, Wonne, Frieden und Kraft erhalten. „Wenn von der Unendlichkeit, Unendlichkeit weggenommen wird, bleibt unverändert Unendlichkeit.“ Das lehren uns die Upanishaden.
Gibt es Unterschiede zwischen der Verwirklichung des einen Meisters und der Verwirklichung eines anderen?
Sri Chinmoy:
Die Meister haben nicht alle dasselbe Niveau. Ein vollständig verwirklichter Meister ist jemand, der dauerhaft eins mit Gottes Bewusstsein ist, der sich seines Einsseins mit Gott ständig bewusst ist. Es gibt aber auch halbverwirklichte oder teilweise verwirklichte Meister. Während sie meditieren sind sie für einige Stunden eins mit Gott, doch während der restlichen Zeit sind sie wie normale Menschen. Ihr Einssein mit Gott hängt davon ab, welche Art von Verwirklichung diese Meister erreicht haben.
Gott-Verwirklichung ist wie ein Baum. Man kann hinlaufen und den Baum der Verwirklichung berühren und sagen: „Ich habe Gott verwirklicht.“ Aber diese Verwirklichung betrifft nur den Fuß des Baumes. Man ist sehr glücklich, den Fuß des Baumes zu berühren, denn man hat gesehen, dass der Baum Früchte, Blätter und Äste hat. Man kann sie berühren, sie halten, sie fühlen, und man weiß, dass man sein Ziel erreicht hat. Ein anderer wird jedoch sagen: „Nein, ich bin damit nicht zufrieden. Ich will noch ein Stück weit hinauf klettern und mich auf einen Ast setzen. Dann werde ich fühlen, dass ich mein Ziel erreicht habe.“ Er geht einen Schritt weiter, daher ist seine Verwirklichung natürlich höher. Dann wiederum wird es jemanden geben, der zum allerhöchsten Ast hinauf klettert, um die köstlichen Früchte dort oben zu essen. Seine Verwirklichung ist noch höher. Er hat das Höchste nicht nur gesehen und berührt, sondern er ist tatsächlich bis zum Höchsten hinauf geklettert. Aber er hat nicht die Absicht, wieder herab zu kommen, weil er glaubt, dass er in dem Moment, wo er herab kommt, wieder ein gewöhnlicher Mensch sein wird, gefangen in den Fesseln der unwissenden Welt. Er fürchtet, dass er nicht wieder hinauf klettern kann, wenn er einmal herab gestiegen ist.
Dann gibt es noch eine andere Art von verwirklichter Seele, die nicht nur zum Höchsten hinauf klettert, um Verwirklichung zu erlangen, sondern die auch die Früchte des Baums für die Welt herab bringt. Sie kommt um der Manifestation willen zurück. Sie sagt: „Ich bin nicht damit zufrieden, auf dem Baumwipfel zu sitzen. Das ist nicht mein Ziel. Was ich empfangen habe, möchte ich mit der Menschheit teilen.“ Sie hat die Fähigkeit, nach Belieben hinauf und hinunter zu klettern. Wenn sie hinunter klettert, bringt sie Mitleid, Frieden, Licht und Glückseligkeit von oben herab. Und wenn sie hinauf klettert, nimmt sie die Menschheit mit sich. Sie setzt sich ein paar Menschen auf die Schultern und klettert mit ihnen hinauf. Sie lässt diese Seelen dort oben und kommt dann wieder herab, um ein paar weitere Menschen auf ihren Schultern empor zu tragen. Die Fähigkeit eines solchen Meisters ist unendlich viel größer als die Fähigkeit eines Meisters, der nur den Baum berührt. Diese Verwirklichung ist die umfassendste.
In Indien gab es einige spirituelle Meister, die teilweise verwirklicht waren. Sie berührten den Fuß des Baumes, kletterten aber nicht bis zum höchsten Ast hinauf. Sie werden von den Suchern als sehr hoch angesehen, aber wenn man ihren Standard mit dem von Sri Krishna oder von Christus oder Buddha vergleicht, muss man sagen, dass diejenigen, die nur den Fuß des Baumes berührten, nur eine Teilverwirklichung erlangt haben.
Wenn ein Hindu einen Tropfen Gangeswasser berührt, wird er ein Gefühl von Reinheit verspüren. Doch wenn jemand fähig ist, den Ganges zu durchschwimmen, wird er natürlich stärker davon überzeugt sein, dass sein ganzer Körper gereinigt wird. Was die Verwirklichung betrifft, kann man ebenfalls mit einem Tropfen Nektar zufrieden sein, oder man kann sagen: „Nein, ich brauche den grenzenlosen Ozean.“ Man kann aber auch sagen: „Dieser grenzenlose Nektar ist nicht nur für mich; er ist für jeden da. Ich möchte ihn mit anderen teilen.“ Die Verwirklichung eines Suchers, der sogar fähig ist, seine höchste Verwirklichung mit anderen zu teilen, ist den beiden anderen Arten von Verwirklichung zweifellos überlegen.
Sri Ramakrishna pflegte über den jivakoti und den ishvarakoti zu sprechen. Der jivakoti ist jemand, der Gott verwirklicht hat, aber nicht wieder den Bereich der Manifestation betreten will. Ein Mensch, der ein Floß, ein winziges Boot besitzt, kann selbst das Meer der Unwissenheit überqueren, aber er kann niemanden mitnehmen. Aber der ishvarakoti, der ein großes Schiff hat, kann Hunderte und Tausende menschlicher Seelen darin unterbringen und sie über das Meer der Unwissenheit tragen. Er kommt wieder und wieder in die Welt zurück, um die Menschheit zu befreien.
Wie findet man einen Guru und woher weiß man, dass man die richtige Wahl trifft?
Sri Chinmoy:
Es ist keine Frage des Wissens. Es ist eine Frage des Fühlens. Tauche bitte tief nach innen, vergieße bittere Tränen und bete zu Gott: „Ich habe mein Leben verschwendet, mein ganzes Leben; jetzt musst Du mir sagen, ob ich dazu bestimmt bin, einen Guru zu haben.“ Dann wird Gott sagen: „Ja, du bist dazu bestimmt.“ Du wirst Gott fragen: „Wer ist mein Guru? Ich flehe Dich an, es mir zu sagen.“ Wenn du ganz und gar aufrichtig bist, wird Gott augenblicklich auf dein Gebet antworten. Wenn ein Kind vor seiner Mutter bitterlich weint, wie lange kann die Mutter, wenn sie eine wirkliche Mutter ist, dem Kind verweigern, was es haben will? Du bist ein Kind des Supreme. Wenn du aufrichtig bittest, ist es nur eine Frage von Stunden oder Tagen. Der Supreme wird dich schnell fühlen lassen, welcher Meister für dich bestimmt ist.
Wie kann man einen Gottverwirklichten spirituellen Meister erkennen?
Sri Chinmoy:
Wenn du mit einem Gottverwirklichten Meister zusammen bist, wirst du unweigerlich, bewusst oder unbewusst, Frieden, Licht, Glückseligkeit und Kraft verspüren, da es seine ureigenste Natur ist, diese Dinge auszustrahlen. Er stellt sie nicht zur Schau, es geschieht spontan, so wie es in der Natur einer Blume liegt, ihren Duft zu verströmen. Täglich kommst du mit Tausenden von Leuten in Berührung, aber das erhältst du von keinem.
Der äußere Körper eines Meisters mag sehr hässlich sein, aber in seinen Augen wirst du alle göttlichen Eigenschaften sehen können. Und wenn seine Augen geschlossen sind, wirst du äußerlich nichts feststellen können, aber tief in dir wirst du eine innere Freude spüren, die du nie zuvor gefühlt hast. Du hast auch vorher schon Freude empfunden, doch das innere Entzücken, welches du erhältst, wenn du zum ersten Mal vor einem echten spirituellen Meister stehst, ist unbeschreiblich. Und wenn der Meister dein eigener Meister ist, wird deine Freude noch unendlich viel größer sein.
Du wirst in einem spirituellen Meister viele göttlichen Eigenschaften wahrnehmen können, vorausgesetzt, dass du inneres Streben besitzt. Ansonsten kann es sein, dass du dem spirituellen Meister gegenüber sitzt, mit ihm sprichst, freundschaftlichen Austausch mit ihm pflegst, aber gar nichts bekommst. Es ist dein inneres Streben, das es dir ermöglicht, all die göttlichen Eigenschaften des Meisters zu empfangen. Wenn du kein inneres Streben besitzt, wird der Meister nicht in der Lage sein, dir etwas zu geben, ganz egal was er hat.
Wenn du mit einem echten Meister sprichst, muss zudem deine eigene Aufrichtigkeit zum Vorschein kommen. Das heißt nicht, dass du stets deine Aufrichtigkeit zum Ausdruck bringen wirst. Vielleicht lügst du, obwohl dich deine Aufrichtigkeit dazu drängt, die Wahrheit zu sagen. Aber wenn du bei einem spirituellen Meister bist, wirst du zumindest deine Aufrichtigkeit anerbieten wollen, auch wenn deine Unaufrichtigkeit hervor kommen und mit dir kämpfen und dich manchmal davon abhalten mag.
Wenn du bei einem verwirklichten Meister bist, wirst du unweigerlich fühlen, dass dich der Meister versteht; und nicht nur dass er dich versteht, sondern dass er auch die Fähigkeit hat, dich zu trösten und dir bei deinen Problemen zu helfen. Manche Leute haben das Gefühl, dass es niemanden auf der Erde gibt, der sie versteht. Wenn sie das Glück haben, doch jemanden zu finden, der sie versteht, müssen sie erkennen, dass diese Person ihre Probleme auch nicht lösen kann, weil sie kein inneres Licht, keine innere Weisheit und keine innere Kraft besitzt. Ein spiritueller Meister jedoch versteht nicht nur deine Probleme, sondern hat auch in unendlichem Maße die Fähigkeit, dir in deinen Bedürfnissen zu helfen.
Wenn du vor einem spirituellen Meister stehst, dann wirst du fühlen, dass er niemals von deinem inneren oder äußeren Dasein getrennt werden kann. Du fühlst, dass er dein eigener höchster Teil ist und dass du in ihn hinein wachsen möchtest. Du möchtest ein vollkommener Teil seiner höchsten Verwirklichung werden, weil ein spiritueller Meister all die göttlichen Eigenschaften, nach denen du strebst – Licht, Freude, Frieden, Kraft – in grenzenlosem Maße besitzt.
Es scheint mir, dass ein gewisses Maß an Energie und innerer Sehnsucht erforderlich ist, um deiner Lehre zu folgen. Und was ist mit dem blutigen Anfänger? Manchmal kann man einfach nicht genug Energie aufbringen, um überhaupt anzufangen!
Sri Chinmoy:
Du hast Recht. Nicht nur um meinem Pfad zu folgen, sondern um überhaupt einem spirituellen Pfad zu folgen, muss man über etwas spirituelle Energie und inneres Streben verfügen. Aber wenn man erst auf diese dynamische und spirituelle Energie warten muss, wird man seine Reise nie beginnen. Wenn du also wirklich das spirituelle Leben willst, dann wirf dich einfach in das innere Leben. Schau weder zurück noch nach links oder rechts. Schau nach vorne und spring in das Meer der Spiritualität. Beginne dort, wo du gerade stehst. Wenn du nur begrenzte Energie hast, wenn dein inneres Streben unbedeutend ist, dann tauche tief nach innen. Du wirst zum inneren Brunnen, zur Quelle inneren Strebens gelangen.
Du kannst nicht über Nacht zum Multimillionär werden. Du musst mit einem Cent beginnen. Wenn du also ein wenig inneres Streben hast, wenn dir Gott wirklich wichtig ist, dann beginne einmal am Tag, früh am Morgen, Gottes Namen zu wiederholen. Schritt für Schritt kannst du den ganzen Tag in eine Wiederholung von Gottes Namen verwandeln und auf dem Weg zu deiner Selbstentdeckung echten Fortschritt machen. Wenn du einen aufrichtigen inneren Ruf nach Gott verspürst, dann kannst du deine spirituelle Reise beginnen, egal wo du bist oder was du hast.