Reinkarnation
Du hast vorhin gesagt, dass jede Inkarnation eine Stufe auf dem Weg zu unserer Gott-Verwirklichung ist. Bedeutet das, dass wir in diesem Leben Gott nicht erreichen können?
Sri Chinmoy:
Nein, ganz und gar nicht. Es ist eine Frage der Grundlagen in der Vergangenheit und der Strebsamkeit. Wenn jemand in seinen früheren Leben gestrebt und meditiert hat, dann gibt es keinen Grund, warum er aufgrund seiner Strebsamkeit die Verwirklichung nicht in seiner jetzigen Inkarnation erlangen sollte. Da wir uns alle zur Verwirklichung hin bewegen, wird diese Verwirklichung unweigerlich früher oder später in einer kommenden Inkarnation stattfinden. Wie ich bereits sagte, ist es eine Frage der spirituellen Entwicklung des Suchers.
Wenn jemand spirituell ist, wird seine nächste Inkarnation dann anders sein als die eines gewöhnlichen Menschen?
Sri Chinmoy:
Sicherlich. Wenn eine Seele spirituell sehr weit fortgeschritten ist, wird sie kein gewöhnliches Leben annehmen, da sie schon durch das gewöhnliche Leben hindurch gegangen ist. Jede Inkarnation ist eine Stufe auf dem Weg zu unserer letztendlichen Gott-Verwirklichung. Wenn jemand in seiner letzten Inkarnation bewusst gestrebt hat, dann wird seine zukünftige Geburt mehr Möglichkeiten für seinen spirituellen Fortschritt bereit halten. Wenn nun ein Sucher in seiner letzten Inkarnation mit dem spirituellen Leben begonnen hat, und wenn er in seiner spirituellen Praxis in seinem letzten Leben wirklich aufrichtig war, dann wird er in diesem Leben bereits in jungen Jahren zu streben beginnen. Er wird in eine spirituelle Familie hinein geboren werden, wo er ermutigt wird, von Geburt an ein spirituelles Leben zu führen, und er wird zu streben beginnen, wenn er zehn, zwölf, vierzehn oder sechzehn ist. Allerdings kann es auch geschehen, dass seine Lebensumstände schlecht sind. Dann wird er, obwohl er in der letzten Inkarnation mit dem spirituellen Leben begonnen hat, in dieser Inkarnation langsam vorwärts gehen, da er keine Hilfe von seinen Eltern oder von seiner Umgebung erhält. Aber es ist kein Risiko; es ist eine Reise. Im Laufe der Evolution legt die Seele Tausende von inneren Meilen zurück und sammelt dabei unterschiedliche Erfahrungen, und diese Erfahrungen sind es, die der Seele schließlich ihre volle Verwirklichung geben.
Wenn der Betreffende jedoch ein sehr großer Sucher war, der kurz davor stand, Gott zu verwirklichen, dann wird er mit größter Wahrscheinlichkeit in eine spirituell sehr weit entwickelte Familie kommen und von Anfang an in das wahre spirituelle Leben eintreten können. Die meisten der wirklichen spirituellen Meister inkarnieren sich in sehr weit entwickelten spirituellen Familien. Gott kann einen spirituellen Meister auch in eine unspirituelle Familie schicken, denn Er ist durch keinen Plan gebunden, aber in den meisten Fällen kommen spirituelle Meister in spirituelle Familien.
Wenn ein Schüler Gott nicht verwirklicht, während sein Guru im Körper ist, wie ist es dem Guru dann möglich, dem Schüler in dessen nächster Inkarnation zu helfen, wenn es keinen anderen lebenden Guru gäbe, durch den er arbeiten könnte?
Sri Chinmoy:
Der Guru braucht keinen anderen Guru, durch den er arbeiten kann. Vor viertausend Jahren hatte Sri Krishna eigene Schüler, als er physisch auf der Erde war, und bis heute gibt es viele seiner Schüler, die noch keinen anderen Meister angenommen haben. Sie inkarnieren sich zum Beispiel in einer Familie, die dem Pfad Krishnas folgt, so dass Krishna ihnen auf seine Weise Befreiung geben kann. Ähnlich ist es bei den anderen großen Meistern. Viele von Sri Ramakrishnas Schülern sind wieder auf die Erde gekommen. Sie sind zu keinem anderen Guru gegangen, und dennoch erhalten sie Erfüllung. Aber wenn sie einen anderen Meister haben wollten, würde ihnen Ramakrishna natürlich raten, zu einem anderen Meister zu gehen. Manche Schüler großer Meister haben einen anderen Guru angenommen. Einige meiner Schüler waren tatsächlich Schüler von Sri Krishna.
Wie kann ein spiritueller Meister seinen Schülern helfen, wenn sie nicht zu einem anderen Guru gehen? Er kann es durch seinen bewussten Willen tun, durch den Willen seiner Seele. Ich bin hier auf der Erde, und obwohl ich nicht in England oder Puerto Rico bin, konzentriere ich mich durch meinen bewussten Willen früh am Morgen nach zwei Uhr auf all jene, die dort meine Schüler sind. Sich eine flüchtige Sekunde lang zu konzentrieren reicht völlig aus, aber ich verwende mehr Zeit, um zu wissen, was die Seele tut und wie weit die Seele gekommen ist. So kann ein spiritueller Meister seinen Schülern an verschiedenen Orten der Welt helfen, selbst während er im Physischen weilt, was eine echte Einengung bedeutet. Wenn er dann den Körper verlässt, ist er völlig frei. Vom anderen Ufer aus arbeitet der spirituelle Meister durch das Licht der Seele oder durch Willenskraft. Das Licht der Seele kann von jeder Bewusstseinsebene aus anerboten werden, von der höchsten Ebene bis hinunter zur irdischen Ebene. Von den höheren Welten aus kann sich der Meister leicht mit der strebenden Seele des Schülers verbinden, und der Schüler kann leicht auf das Licht des Meisters antworten. Das ist die Weise, wie der Meister dem Schüler helfen kann, ihm helfen muss und ihm tatsächlich hilft.
Wenn die Seele zurückkommt, nimmt sie dann wieder dasselbe Vitale an?
Sri Chinmoy:
Sie kann wieder dasselbe oder auch ein anderes Vitales annehmen, das weiter entwickelt ist. Es ist wie beim Einkaufen in einem Laden. Du lässt etwas im Laden zurück, und wenn du wieder kommst, nimmst du entweder deinen eigenen Gegenstand wieder mit oder du kaufst etwas Schöneres. Anstatt deine alte Uhr zu behalten, kaufst du vielleicht eine neue. Und jemand, der weniger Geld hat als du, wird an deiner alten Gefallen finden.
Wenn sich die Seele in einem neuen Körper inkarniert, was geschieht dann mit dem spirituellen Herzen? Geht es auch von einem Leben zum anderen wie die Seele?
Sri Chinmoy:
Wenn die Seele den Körper verlässt, dann nimmt sie die Essenz der Erfahrungen, die Körper, Verstand, Lebensenergie und Herz in diesem Leben gemacht haben, mit sich. Aber sie nimmt nicht das Herz, das Vitale oder den Verstand mit, wenn sie in die Region der Seele zurückkehrt. Wenn sie sich in einem neuen Körper inkarniert, dann ist die Seele – oder man kann auch sagen, das psychische Wesen oder der Purusha – immer dieselbe. Sie trägt noch immer die Verwirklichungen und Erfahrungen ihrer früheren Leben in sich. Aber sie nimmt ein neues Herz, einen neuen Verstand, ein neues Vitales und einen neuen Körper an.
Kannst du mir helfen, so schnell wie möglich den Körper zu verlassen und mich an einem Ort wieder zu verkörpern, der sehr hochgelegen und sehr kalt ist, mit viel Nebel und Schnee?
Sri Chinmoy:
Ich habe die Kraft zu tun, worum du mich bittest. Aber wenn ich mit deiner Bitte zum Supreme gehe, wird Er mich sofort auslachen und sagen: „Was für einen Schüler hast du, der seine Augen wieder schließen will, nachdem er sie gerade erst geöffnet hat?“ Das Klima hat nichts mit Gott-Verwirklichung zu tun. Sri Ramana Maharshi und Sri Aurobindo lebten in Südindien, das ein sehr heißes Klima hat, aber es hat sie nicht davon abgehalten, Gott zu verwirklichen. Es gibt viele Sucher, die in den Höhlen hoch oben im Himalaya leben, im ewigen Schnee, die aber Gott nicht verwirklichen konnten. Das Klima hat damit nichts zu tun. Es ist die innere Hitze der Strebsamkeit, die Gott-Verwirklichung bringen kann, nicht die äußeren klimatischen Bedingungen.
Rabindranath Tagore, Indiens größter Dichter, pflegte täglich sechs oder acht Gedichte zu schreiben. Einmal dachte er, dass er viel bessere Dichtung schreiben könnte, wenn er sich an einen einsamen Ort zurückziehen würde. Deshalb verließ er sein Haus und zog sich an einen einsamen Ort in den Bergen zurück. Während er dort war, war er nicht in der Lage, auch nur ein einziges Gedicht zu schreiben. Er entdeckte, dass nicht die Umgebung wichtig war, sondern die innere Inspiration. Gott hat die Bedingungen ausgewählt, unter denen du dein jetziges Leben lebst. Es ist wie ein Schauspiel. Die Bühne steht und der Vorhang ist für dich geöffnet, damit du deine Rolle spielen und auf dem spirituellen Pfad voranschreiten kannst. Deine gegenwärtigen Umstände sind die besten für dein Vorwärtskommen. Nun willst du den Körper verlassen und einen neuen Körper in einer zukünftigen Inkarnation annehmen, in einer Umgebung, von der du denkst, dass sie für dich am besten passt. Aber diese Art von Leben würde viel schlimmer als dein jetziges Leben sein, weil es von deinem Verstand gewählt wäre, während dein jetziges Leben von Gott gewählt wurde.
Wenn dich deine vergangenen Taten in dieser Inkarnation quälen, dann möchte ich dir sagen, dass meine Philosophie lautet: „Vergangenheit ist Staub“. Was immer du vor einigen Jahren oder selbst gestern getan hast, sollte dich nicht beschäftigen. Die Vergangenheit ist nicht wichtig. Nur das, was du von jetzt an tust, kann deinen Fortschritt beschleunigen. Jetzt hast du einen spirituellen Meister in einem physischen Körper, der dir helfen kann. Nur die Gegenwart und die Zukunft, die in die Gegenwart fließt, können dir Befreiung geben.
Ist es vorherbestimmt, wie viel Fortschritt eine Seele in einer Inkarnation machen wird?
Sri Chinmoy:
In manchen Fällen ist es vorherbestimmt und in manchen Fällen gibt es keine feste Grenze; es hängt davon ab, wie viel Gnade eine Seele empfängt.
Hat die Seele immer die Versicherung, dass sie ihre wahre Aufgabe während jeder neuen Lebenszeit auf Erden finden wird?
Sri Chinmoy:
Bevor die Seele eine menschliche Inkarnation annimmt, erhält sie die innere Botschaft über ihre göttliche Bestimmung auf der Erde. Sie ist sich ihrer Mission vollkommen bewusst und kommt mit der unmittelbaren Zustimmung oder Billigung des Supreme hierher. Aber während des Lebens überdecken zuweilen die Aktivitäten des physischen Verstandes die göttliche Inspiration und den wahren Zweck der Seele. Dann kann die Mission der Seele nicht zum Vorschein kommen. Wenn wir jedoch beginnen, mit dem Verstand, dem Herzen und der Seele zu streben, dann können wir den Zweck unseres Daseins hier auf der Erde erkennen.
In jedem menschlichen Wesen findet eine ständige Schlacht zwischen dem Göttlichen und dem Ungöttlichen statt. Die Unwissenheit der Welt versucht die menschliche Strebsamkeit zu verschlingen. Auf dem gegenwärtigen Stand der Entwicklung leben die meisten Menschen im ungöttlichen Vitalen, das voller Begierden, Ängste und Erregung ist. Deshalb sind sie sich der Bedürfnisse der Seele nicht bewusst.
Was macht die Seele im Körper vor der Geburt?
Sri Chinmoy:
Die Seele verhält sich im Körper absolut still. Sie ist wie ein Zeuge. Sie beobachtet einfach die physischen Organe. Doch was sie sieht, wenn sie bei der Geburt zum ersten Mal in die Welt tritt, ruft in ihr eine Art Angst und Enttäuschung hervor. Die Seele ist ein Strahl des Göttlichen, aber wenn sie die Welt betritt, sieht sie sofort die Unwissenheit. Die Seele hat die Welt angenommen, doch in dem Augenblick, wo das Kind geboren wird, sieht die Seele durch die Augen des Kindes, und was sie sieht, erzeugt Angst in ihr. Die Seele sieht in diesem Moment nichts Schönes; sie sieht nur etwas Wildes, das sie wie ein Löwe verschlingen will. Dann sagt die Seele: „Ich habe diesen Körper angenommen. Ich muss kämpfen. Warum sollte ich mich wie ein Feigling verhalten? Warum sollte ich den Körper verlassen? In diesem Körper, mit diesem Körper muss ich für Gott kämpfen und Sein Königreich hier auf Erden errichten.“
Wann tritt die Seele in den Körper ein?
Sri Chinmoy:
Normalerweise liegt der Zeitpunkt, wo die Seele in den Körper eintritt, zwischen sechs und acht Monate vor der Geburt. In seltenen Fällen kann sie zur Zeit der Empfängnis eintreten. Der späteste Zeitpunkt dafür ist gewöhnlich dreizehn oder vierzehn Tage, bevor das Kind geboren wird. Sehr selten tritt die Seele nur zwei oder drei Tage vor der Geburt ein und manchmal kommt sie sogar erst kurz nach der Geburt. In diesem Fall wartet die Seele bis zum letzten Moment, bevor sie ihre Entscheidung trifft, weil sie sich in Bezug auf die Familie nicht sicher ist. Manche Seelen haben das Gefühl, dass sie eine bessere Entscheidung treffen können, wenn sie länger warten. Und manche Seelen brauchen einfach länger, um sich zu entscheiden, genauso wie manche Menschen länger als andere für eine Entscheidung brauchen. Aber manche Seelen warten nicht; sie wissen sofort, was zu tun ist, und wenige Monate nach der Empfängnis ist alles geschehen.