Seele
Hat das Vitale eine eigene Mission, die verschieden ist von der Mission der Seele, oder steht sie zur Mission der Seele in Beziehung?
Sri Chinmoy:
Das Vitale und der Körper haben keine eigene Mission. Aber wenn sie mit der Mission der Seele zusammenarbeiten, wird diese auch zu ihrer eigenen. Das Vitale hungert nach Ruhm und Ehre, aber das sind nur Ziele. Wenn sich das Vitale mit der Seele identifiziert und bereitwillig die Mission der Seele annimmt, dann wird die Mission der Seele zweifellos auch zur Mission des Vitalen.
Hat die Seele in einem Leben viele Missionen oder nur eine?
Sri Chinmoy:
Es gibt nur eine Mission, aber viele Ziele. Eine Seele will in einem Leben vielleicht ein Dichter, ein Künstler oder ein Ingenieur werden. Jede Seele mag verschiedene schöpferische Kräfte anstreben, aber dies sind nur Ziele. Sie dürfen nicht mit der Mission der Seele verwechselt werden. Die Mission der Seele ist immer und vor allem anderen: Gott-Verwirklichung; danach kommt die Manifestation der Gott-Verwirklichung auf Erden. Das Ziel hingegen kann entweder bei der Gott-Verwirklichung helfen oder aber diese verzögern, je nachdem, auf welche Weise der Einzelne sich der Wahrheit nähert.
Wenn jemand zum Beispiel ein Schriftsteller ist, ist das schön und gut. Wenn er sich dem Schreiben widmet, ohne durch das Schreiben nach Gott-Verwirklichung zu streben, dann mag er eines Tages zu einem weltberühmten Autor werden, aber er ist dadurch nicht unbedingt seiner Selbst-Entdeckung näher gekommen. Wenn jemand andererseits aber schreibt, um das Göttliche in seinen Werken auszudrücken, wenn der äußere Ausdruck das Ergebnis inneren Strebens und das Schreiben ein gewidmeter Dienst für den Supreme in der Menschheit ist, dann wird der Sucher im Schriftsteller ihn sicher zur Verwirklichung Gottes führen. Um zu deiner Frage zurück zu kommen: Vom Standpunkt der absoluten Wahrheit aus gibt es nur eine Mission, und diese ist nichts anderes als Selbst-Verwirklichung.
Wenn die Seele einen neuen Körper wählt, hat sie dann einen Entwurf für ihre Mission oder entwickelt sich die Mission der Seele während des Lebens eines Menschen, je nach den äußeren Umständen und der Umgebung?
Sri Chinmoy:
Die Seele kommt immer mit einer bestimmten Mission zur Erde herab. Allerdings kann die irdische Umgebung diese Mission unterstützen oder behindern. Es kommt auch vor, dass sich die Seele durchaus freiwillig an ihre Umgebung anpasst. Dann versucht sie, ihre Mission schrittweise mit der vollen Anerkennung und Zusammenarbeit ihrer Umgebung zu erfüllen.
Wenn wir mit dem Licht der Seele sehen, ist das immer von einem Gefühl der Freude begleitet?
Sri Chinmoy:
Ja. Es geschieht immer mit einem Gefühl der inneren Freude, und diese Freude drückt sich oft durch das Vergießen von Tränen aus. Diese Tränen sind der äußere Ausdruck der Wonne der Seele und haben nichts mit menschlicher Sorge, Kummer oder Frustration zu tun. Es ist, wie wenn eine Mutter Tränen vergießt, wenn ihr Sohn aus der Fremde wieder nach Hause kommt. Ihre Tränen sind der Ausdruck ihrer inneren Freude.
Wenn man mit dem Licht der Seele sieht, sieht man dann Hunderte von Leben vor sich?
Sri Chinmoy:
Wenn man mit dem Licht der Seele sieht, kann man die zukünftigen Möglichkeiten seiner gegenwärtigen Inkarnation sehen und bestenfalls noch ein oder zwei zukünftige Inkarnationen, aber keine Hunderte von Leben. Dasselbe gilt auch für vergangene Inkarnationen. Diese flüchtigen Einblicke brauchen nicht in chronologischer Reihenfolge zu stehen. Bei großen spirituellen Meistern wie Sri Krishna und Buddha trifft dieses Prinzip allerdings nicht zu, da sie die fernste Vergangenheit und die weiteste Zukunft im exakten zeitlichen Ablauf überblicken können.
Wo ruht die Seele zuerst aus, wenn sie den Körper verlässt? Nimmt sie alle ihre körperlichen und irdischen Begrenzungen mit sich?
Sri Chinmoy:
Wenn die Seele den Körper verlässt, verweilt sie zuerst für eine kurze Zeit in der Welt des Vitalen. Einige Seelen leiden dort, andere hingegen nicht. Es ist so, als würde man ein fremdes, neues Land besuchen. Einige haben das Glück, sich frei unter das Volk des neuen Landes mischen zu können und sofort dessen Kultur zu verstehen, während andere dieses Glück nicht haben.
Die Seele nimmt keine irdischen Begrenzungen in die höheren Welten mit. Die Seele oder das psychische Wesen sammelt die Quintessenz aller irdischen Erfahrungen, während sie den Körper verlässt und in ihre eigene Region zurückkehrt. Dort verweilt sie für einige Zeit und kommt dann mit neuer Entschlossenheit und neuen Möglichkeiten wieder in diese Welt zurück, um das Göttliche hier auf Erden zu verwirklichen und zu erfüllen.
Welche Verbindung hat die Seele zu vergangenem und zukünftigem Karma?
Sri Chinmoy:
Genau genommen kann Karma nicht wirklich verstanden werden, ohne die Seele miteinzubeziehen. Karma existiert für das Wachstum der Seele. Ich bin sicher, du weißt, was das Wort „Karma“ bedeutet. Es ist ein Sanskrit-Wort, das sich von der Wurzel „kri“ ableitet: tun. Was immer wir tun, sagen oder denken, ist Karma. Das Universum wird von einem Gesetz regiert, das wir das Gesetz des Karma nennen. Du hast viel über das Gesetz des Karma gelesen, daher brauche ich es hier nicht näher zu erklären, außer zu erwähnen, dass alle Taten und Gedanken einen Abdruck auf dem kausalen Körper hinterlassen und gewisse Folgen mit sich bringen.
Gleichzeitig aber steht die Seele weit über den Fallstricken von Ursache und Wirkung. Sie ist das Bindeglied zwischen allem, was vorangeht, und allem, was nachfolgt. Sie wird durch alle Erfahrungen bereichert, welche die Persönlichkeit durch das Gesetz des Karma macht.
Unterscheiden sich die Seelen in ihren Merkmalen?
Sri Chinmoy:
Im Prinzip gibt es keinen grundlegenden Unterschied zwischen den Seelen, außer was den Grad ihrer Manifestation betrifft. Alle Seelen besitzen dieselben Möglichkeiten, ob sie nun in der niedrigsten oder höchsten Lebensform zu finden sind.
Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass der Supreme Sich selbst auf unendlich viele Weisen durch die unterschiedlichen Seelen manifestiert. Sie drücken Seine verschiedenen Aspekte der Göttlichkeit aus. Zum Beispiel kann eine Seele Licht manifestieren, eine andere Kraft, eine dritte Schönheit und so weiter.
Durch die Manifestation der verborgenen Kräfte im Verlaufe der Reinkarnation wurden manche Seelen zu großen spirituellen Meistern. Und alle Seelen werden ihnen letztendlich folgen.
Könnte eine Seele, die jetzt in einem menschlichen Körper wohnt, früher auch im Körper eines Tieres oder in einer Pflanze gewohnt haben?
Sri Chinmoy:
Ich bin sicher, dass du mit der Evolutionstheorie bestens vertraut bist. Charles Darwin entdeckte in der modernen Welt den Prozess der Entwicklung der Arten, d.h. den Wandel von einer niederen zu einer höheren Entwicklungsstufe. Aber lange vor Darwin und tausend Jahre vor Christi Geburt hatte der große indische Heilige Kapila die Theorie der spirituellen Evolution entdeckt. Seiner einzigartigen Philosophie zufolge entwickelt sich das Ewige, Unwandelbare und Unzerstörbare in jedem Augenblick. „Nichts kam von nichts.“ Diese Wahrheit entdeckte der indische Heilige und bot sie der ganzen Welt an.
Der gesamte Prozess der Evolution auf Erden umfasst sowohl die Seele als auch die körperliche Form. Im Verlauf der Evolution muss jede Seele das pflanzliche Leben und das tierische Leben durchlaufen, um in das menschliche Leben eintreten zu können.
Was ist der Unterschied zwischen „Seelenstärke“ und „Charakterstärke“?
Sri Chinmoy:
Charakterstärke ist der Stolz der Moral und der Menschheit. Seelenstärke ist der Stolz der Spiritualität, der Ewigkeit und der Unendlichkeit.
Damit möchte ich allerdings nicht den Eindruck erwecken, dass Moral keinen Wert im inneren Leben habe. Im Gegenteil, eine hohe Moral ist die Vorbereitung für eine tiefe Spiritualität. Zudem ist die Rolle der Moral von großer Bedeutung für wahre Spiritualität.
Seelenstärke ist die innere Kraft oder Gewissheit, die vom Göttlichen in dir kommt. Du hast deine Seele gesehen, du hast Gottes Willen in dir gefühlt, und du hast die Kraft erhalten, Seinen Willen hier auf Erden zu manifestieren.