Seele
Wie unterscheidet sich das von den Forderungen des Egos?
Sri Chinmoy:
Wenn das Ego etwas fordert, dann ist es ganz und gar auf sich selbst bezogen – „ich“, „mich“ und „mein“. Das Ego will besitzen und besessen werden. Wenn die Seele etwas haben möchte, dann dient das nicht ihrem persönlichen Vorteil, sondern der Erfüllung des Göttlichen. Das Ego will sich selbst erfüllen, indem es die äußere Persönlichkeit nährt, und das ist schlichtweg unmöglich, da seine Begierden kein Ende haben. Das Ego trifft letzten Endes auf Frustration, während die Seele ihre eigene absolute Erfüllung verwirklicht, indem sie den Göttlichen Willen erfüllt.
Stellt die Seele Forderungen an einen Menschen, damit er sich ändert?
Sri Chinmoy:
Die Seele stellt an sich keine Forderungen. Sie ist nicht wie eine Mutter, die in jedem Augenblick etwas von ihrem Kind verlangt und sagt: „Ich will das nur zu deinem Besten.“ Was die Seele macht, ist, eine göttliche Inspiration zu schicken. Diese Inspiration kann manchmal so intensiv und spontan sein, dass man das Gefühl haben kann, dass es fast ein innerer Zwang ist, den das innere Selbst der äußeren Persönlichkeit auferlegt. Die Seele fordert nicht. Im Gegenteil, sie sympathisiert mit den menschlichen Schwächen und Unvollkommenheiten und versucht, sich selbst mit diesen Schwächen zu identifizieren. Dann versucht sie mit ihrem inneren Licht der Person zu helfen, sich zu ändern.
Erfährt die Seele Einsamkeit? Wenn ja, wie unterscheidet sich das von dem oberflächlichen Bedürfnis nach der Gesellschaft anderer Menschen, ob wir sie nun mögen oder nicht, einfach weil wir jemanden zum Reden brauchen?
Sri Chinmoy:
Die Seele erfährt Einsamkeit nur dann, wenn der Körper, das Vitale, der Verstand und das Herz, die mit der Seele zusammenarbeiten sollten, um deren göttliche Mission auf Erden zu erfüllen, nicht kooperieren. Aber die Seele verhält sich nicht wie ein Mensch. Sie verschwendet nicht ihre Zeit so wie ein Mensch es tun würde, der glaubt, dass seine Einsamkeit verschwinden wird, einfach indem er mit anderen redet. In ihrer Einsamkeit strebt die Seele höchst intensiv, um von oben Frieden, Licht und Kraft in das Physische, das Vitale und in den Verstand herabzubringen, damit das gesamte Wesen mit der Seele zusammenarbeiten kann, um das Göttliche zu erfüllen. Wenn Frieden, Licht und Kraft in das Physische, das Vitale und den Verstand herabkommen, wird sich der Mensch seines inneren Lebens und wahren Glücklichseins bewusst. Mit Frieden, Licht und Kraft steigt ein höheres Bewusstsein herab. Mit diesem höheren Bewusstsein wird ein Mensch naturgemäß auf das Bedürfnis der Seele reagieren.
Ist es die Seele, die die Entscheidung trifft, wenn sie einen neuen Körper in einer neuen Inkarnation wählt?
Sri Chinmoy:
Ja. Es ist die Seele, die die Entscheidung bei der Wahl eines Körpers trifft, aber mit der direkten Zustimmung des Supreme oder des Selbst. Die Wahl soll der Seele die Gelegenheit geben, in jeder Inkarnation mehr und mehr von ihrer inneren Göttlichkeit zu manifestieren und den Willen des Göttlichen hier auf Erden zu erfüllen.
Muss die Seele sich dem kosmischen Selbst ergeben?
Sri Chinmoy:
Ja. Die Seele muss sich dem Selbst ergeben, welches in Indien Paramatman genannt wird – das Unmanifeste. Dieses Selbst nimmt weder eine menschliche Inkarnation an noch geht es in die Schöpfung ein, während die Seele einen menschlichen Körper annimmt und mit ihm Begrenzung, Unvollkommenheit und Unwissenheit. Jeder Mensch hat eine individuelle Seele. Diese individuelle Seele, die einen menschlichen Körper annimmt, ist nicht alldurchdringend, allwissend oder allmächtig. Das Selbst aber ist es. Die Seele in ihrer aufsteigenden Entwicklung kann eines Tages mit dem Selbst verschmelzen und so kraftvoll werden wie das Selbst.
Ist die Seele sowohl männlich als auch weiblich?
Sri Chinmoy:
Die Seele selbst ist weder männlich noch weiblich. Aber wenn die Seele ihre Reise beginnt und einen weiblichen Körper wählt, dann wird sie durch all ihre Inkarnationen hindurch einen weiblichen Körper behalten. Wenn sie am Anfang einen männlichen Körper wählt, behält sie in all ihren Inkarnationen einen männlichen Körper. Es ist unmöglich, das Geschlecht zu wechseln. In der ganzen Geschichte der Menschheit hat es hier und da zwar ein paar Ausnahmen gegeben, aber nur sehr selten.
Kann die Seele in Träumen gleichermaßen durch eine alte Frau, weise und runzlig, als auch durch ein kleines Baby, das eine neue Sprache vor sich hin brabbelt, verkörpert werden?
Sri Chinmoy:
Ja. Die Seele kann in Träumen sowohl durch eine alte Frau als auch durch ein kleines Baby verkörpert werden. Um dem äußeren Wesen eine bestimmte Erfahrung zu vermitteln, kann die Seele in Träumen jede Form annehmen. Die eigene Seele kann mit dem allmählichen Heranwachsen eines Samens zu einem Baum verglichen werden. Das ist es, was wir die Entwicklung der Seele nennen.
Wie weiß man, ob die eigene Seele glücklich ist?
Sri Chinmoy:
Zuallererst muss man daran glauben, dass man eine Seele hat. Man muss wissen und fühlen, wo sich die Seele aufhält, wo ihr Sitz im Körper ist. Um die Seele zu kennen und zu fühlen, muss man innerlich streben. Während seines glühenden inneren Strebens, während seiner spirituellen Reise, kann ein Sucher tatsächlich erkennen, ob seine Seele glücklich ist oder nicht. Er wird fühlen, dass seine Seele nur dann glücklich ist, wenn er innerlich und äußerlich Freude spürt, und auch wenn er an Gottes Schöpfung und an Gottes göttlichem Walten nichts zu kritisieren hat.
Geht die Seele während des Schlafs auf Reisen?
Sri Chinmoy:
Ja. Die Seele reist zu verschiedenen Ebenen des Bewusstseins. Es gibt sieben höhere Welten und sieben niedere Welten. Im Allgemeinen reist die Seele während des Schlafs in diese Welten. Fast jede Seele hat das Glück, Zugang zu einigen dieser Welten zu haben, aber nur sehr wenige sind sich dieser Erfahrungen bewusst, während sie stattfinden, oder erinnern sich daran, nachdem sie erwachen.
Bleibt die Seele ein ganzes Leben lang bei einem Menschen oder kann sie ihn zeitweise verlassen und sich sogar anderswo ansiedeln?
Sri Chinmoy:
In der Regel bleibt die Seele das ganze Leben lang bei einem Menschen, aber sie kann den Körper für einige Minuten oder höchstens einige Stunden verlassen, wenn der Mensch schläft. Sie kann den Körper auch für eine kurze Zeit verlassen, wenn der Sucher in tiefer Meditation ist. Dann kann man seinen eigenen Körper sehen. Man kann ihn als einen toten oder dynamischen Körper oder als einen Lichtstrahl sehen, der seine eigene Seele anschaut, oder auf viele andere Weisen. Natürlich sieht man dann den Körper mit dem Auge seiner eigenen Seele.